Sozialwissenschaften und das Coronavirus
Wie die Forschung Öffentlichkeit und Entscheidungsträger während der Pandemie mit Informationen versorgen kann
Mei Wang / Marc Oliver Rieger / Diefeng Peng / Dieqiang Chen - 30. November 2020
Seit Anfang 2020 sind wir aufgrund von COVID-19 mit einer massiven globalen Gesundheitskrise konfrontiert. Positiv daran zu beobachten ist, dass wir Zeugen einer beispiellosen internationalen Zusammenarbeit und Koordination zwischen Einzelpersonen, Gemeinschaften und Regierungen geworden sind. Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist dafür ein bemerkenswertes Beispiel. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen haben zusammengearbeitet und in einigen Bereichen enorme Fortschritte erzielt.
Es ist offensichtlich, wie die Naturwissenschaften, insbesondere die Epidemiologie und Immunologie, uns helfen können, mit der Pandemie umzugehen. Weniger klar ist möglicherweise, wie die Sozialwissenschaften zu unserem Wissen über die Pandemie beitragen können. Um zu veranschaulichen, wie sozialwissenschaftliche Forschung die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsträger während COVID-19 informieren kann, fasst dieser Artikel drei Studien zusammen.
Bevor wir die Ergebnisse der Studien vorstellen, möchten wir erwähnen, dass es inzwischen viele ausgezeichnete Datenbanken zur COVID-19-Pandemie gibt, die von Wissenschaftlern und Unternehmen erstellt wurden, und von denen viele frei zugänglich sind. Die in diesem Artikel zusammengefassten Studien haben mehrere dieser Datenquellen verarbeitet, darunter Mobilitätsdaten von Apple Maps und Google, sowie groß angelegte weltweite Online-Umfragedaten und selbst ausgewählte Umfragedaten aus Deutschland und China.
1. Einfach, aber relevant: Inwieweit halten sich die Menschen an Maßnahmen, die die Krankheit eindämmen sollen?
Diese Studie von Wang und Rieger konzentrierte sich auf vier Länder – Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die USA – in den Monaten März und April 2020, als die Regierungen dieser Länder verschiedene Maßnahmen zum sozialen Abstand und zum Herunterfahren des öffentlichen Lebens ergriffen, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen.
Die wichtigste Beobachtung ist, dass die Menschen nach einem anfänglich starken Rückgang ihrer Aktivität aufgrund der Lockdowns, irgendwann wieder aktiver wurden, obwohl die Vorschriften nicht gelockert worden waren. Mit anderen Worten, es kam zu einer Art schleichender Erosion der ergriffenen Maßnahmen. Dies legte nahe: Wenn wir die Prognosen der Pandemie verbessern wollen, ist es wichtig, die tatsächlichen Aktivitäten der Menschen im Auge zu behalten und nicht davon auszugehen, dass das Verhalten im Laufe der Zeit konstant bleibt.
2. Wie proaktiv und stringent haben die Regierungen auf die Pandemie reagiert?
Auf der ganzen Welt gibt es große Unterschiede bei den Sicherheitsvorkehrungen der Regierungen: von starker Zurückhaltung gegenüber gravierenden Einschränkungen (Schweden) bis hin zu ausgedehnten drakonischen Maßnahmen (China). Wang und ihre Co-Autoren untersuchten die Handlungsweisen der Regierungen in Sachen Proaktivität und Stringenz. Dabei zeigte sich, dass sowohl die Kultur als auch die Institutionen bei der Reaktion der jeweiligen Regierung eine Rolle spielten. In Ländern mit einer eher "kollektivistischen" Kultur sind die Regierungen tendenziell proaktiver und reagieren schneller, während in Ländern mit einer eher "individualistischen" Kultur die Regierungen langsamer reagieren, insbesondere im Vergleich zu den Bedenken der Öffentlichkeit.
Die kulturellen Unterschiede sind jedoch in Ländern weniger sichtbar, in denen die Bürger größeres Vertrauen in ihre Regierung haben. Mit anderen Worten: Haben die Bürger mehr Vertrauen in ihre Regierung, kann diese bei der Bewältigung der Pandemie tendenziell entschlossener und schneller zu Werke gehen.
3. Wie zufrieden war die Öffentlichkeit mit der Reaktion ihrer Regierung auf die Pandemie?
Die Menschen denken unterschiedlich über ihre Regierung, selbst wenn sie in ein und demselben Land mit der gleichen Maßnahme konfrontiert sind. Zwischen den Ländern gibt es ohnehin große Unterschiede. Was veranlasst also die Menschen positiv oder negativ über die staatlichen Regelungen zu denken? Und wann denken sie, dass sie zu streng oder zu lax sind? Wang und Rieger machen eine hohe Zahl von COVID-19-Todesfällen als Hauptfaktor für die Wahrnehmung aus, dass die Regierung "zu wenig" getan hat. Andererseits denken Menschen, die anfällig für verschiedene Verschwörungstheorien sind, häufig, dass die Vorschriften "zu streng" sind. Demnach ist das erste Urteil tendenziell eher faktenorientiert, das letztere eher von Überzeugungen oder Ideologien bestimmt.
Beunruhigend wirken kann jedoch, dass in den verschiedenen Ländern die Pressefreiheit das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeiten der Regierung verringert. Zusammen mit den Ergebnissen zu den Verschwörungstheorien ist es daher eine herausfordernde Aufgabe, die Qualität der Presse und der Beiträge in den sozialen Medien zu verbessern, kritisches Denken zu kultivieren und gleichzeitig ein freies Medienumfeld zu erhalten.

Tipps für Praktiker
- Mobilitäts- und Umfragedaten sind für die Vorhersage des Trends von Pandemien wertvoll, da die Menschen flexibel auf Maßnahmen reagieren, die soziale Distanz erfordern. Diese Reaktionen können sich mitunter im Laufe der Zeit ändern und sollten nicht als konstant eingeschätzt werden.
- Politisches Vertrauen ermöglicht es der Regierung, schneller zu reagieren, um die weitere Ausbreitung von Pandemien zu verhindern. Mangelndes Vertrauen ist für die Gesellschaft kostspielig, insbesondere in Krisensituationen. Regierungen sollten daher mit offener Kommunikation und nachvollziehbarer Erklärung der Maßnahmen früh eine Vertrauensbasis schaffen.
- Verschwörungstheorien rufen Widerstand gegen Schutzmaßnahmen hervor. Eine effektive wissenschaftliche Kommunikation mit der Öffentlichkeit durch glaubwürdige Quellen ist von entscheidender Bedeutung.
Literaturverweise und Methodik
Die vorliegend zusammengefassten Studien wurden von Professor Dr. Mei Wang, Inhaberin des Lehrstuhls für Behavioral Finance an der WHU – Otto Beisheim School of Management, und ihren Co-Autoren Professor Dr. Marc Oliver Rieger von der Universität Trier, Diqiang Chen und Prof. Dr. Diefeng Peng von der Central South Universität in Changsha, China, durchgeführt.
Rieger, M./Wang, M. (2020): Secret erosion of the “lockdown”? Patterns in daily activities during the SARS-Cov2 pandemics around the world, in: Review of Behavioral Economics, Vol. 7, S. 223–235.
Chen, D./ Rieger, M./Peng, D./Wang, M. (2020): Institutional and cultural determinants of proactivity and speed of government responses during the COVID-19 pandemic, Arbeitspapier.
Rieger, M./Wang, M. (2020): Trust in government actions during the COVID-19 crisis, Arbeitspapier.
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Autoren

Prof. Dr. Mei Wang
Professor Mei Wang ist Expertin für Verhalten und Kultur im Finanzwesen an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Auswirkungen von Kultur auf individuelle Präferenzen, Entscheidungen und Märkte.

Prof. Dr. Marc Oliver Rieger
Prof. Marc Oliver Rieger ist Experte für Bank- und Finanzwesen an der Universität Trier. Seine hauptsächlichen Forschungsfelder sind Entscheidungstheorien, Finanzderivate, sowie Verhalten und Kultur im Finanzwesen.

Prof. Dr. Diefeng Peng
Professor Diefeng Peng ist Experte für Finanzmärkte an der Business School der Central South Universität in Changsha, China. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit dem Verhalten im Hinblick auf Firmenfinanzen, Aufmerksamkeit der Medien und Anomalien der Märkte, besonders auf dem chinesischen Kapitalmarkt.

Dieqiang Chen
Dieqiang Chen ist Doktorand der Business School der Central South Universität in Changsha, China. Seine Forschungsinteressen gelten den Bereichen Kultur, Institutionen und Finanzmärkte.