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Mehrere Hunderttausend Kunden in der Warteschlange

Der Anstieg der Online-Bestellungen birgt erhebliche Herausforderungen für Lebensmittelhändler.

Seit Beginn der Corona-Krise bestellen viele Kunden ihre Lebensmittel lieber online, als sich im Supermarkt der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen. Auch arbeiten viele im Homeoffice und nutzen die Online-Angebote, um Zeit zu sparen. So berichtete der britische E-Commerce-Lebensmittelhändler Ocado Ende März, dass momentan praktisch jeder Kunde, der jemals eine Bestellung bei Ocado aufgegeben hat, jede Woche mindestens eine Order aufzugeben versucht. Gleichzeitig verdopple sich die durchschnittlich Bestellmenge, und die Warteschlangen auf der Firmenwebseite umfasse bisweilen mehrere Hunderttausend Kunden.

Der sprunghafte Anstieg stellt eine erhebliche Herausforderung für die Händler dar. Sie müssen sehr rasch Strategien entwickeln, um den Ansturm zu bewältigen und ihre Kunden nicht zu frustrieren. Wenn dies gelingt, kann die Krise eine Chance sein, Online-Bestellungen in Kombination mit Lieferservice oder Abholung am Markt (Click & Collect) als Vertriebsschiene deutlich stärker zu etablieren. Die Priorisierung bestimmter Kundengruppen ist eine Möglichkeit dazu. So lässt Ocado, um der Lage Herr zu werden, keine Neukunden für Online-Bestellungen zu, erlaubt maximal eine Lieferung pro Woche und bedient zudem vorrangig Menschen in Hochrisikogruppen und solche, die als besonders hochwertige Kunden angesehen werden. An diese Gruppen verschickt Ocado Links, mit deren Hilfe sie die Buchungswarteschlange umgehen können.  

Auch neue Ansätze im Management der Zeitfenster, in denen der einzelne Kunde beliefert wird oder er seine Bestellung abholen kann, können zur Lösung des Problems beitragen. Kürzlich veröffentlichte Forschungsergebnisse einer gemeinsamen Studie der WHU – Otto Beisheim School of Management und der University of Warwick (GB) zeigen, dass ein flexibleres Angebot von Zeitfenstern es erlauben würde, mehr Kunden zu beliefern.  Dies gilt im Übrigen nicht nur für Krisenzeiten, sondern auch für Zeiten, in denen die Nachfrage moderater ist. Die Idee ist im Wesentlichen, dass ein Kunde entsprechend seiner persönlichen Verfügbarkeit gleich mehrere Zeitfenster auswählen kann, beispielsweise 8:00 – 9:00 Uhr morgens und 18:00 – 19:00 Uhr abends. Kurz vor dem Tag der Lieferung würde der Kunde jeweils benachrichtigt, in welchem der ausgewählten Zeitfenster die Lieferung nun erfolgen wird. Um den Kunden einen Anreiz für mehr Flexibilität zu geben, könnten die Händler beispielsweise Nachlässe bei den Liefergebühren anbieten.

Wichtig für die Händler ist dabei, dass die Anreize, die sie ihren Kunden für flexible Zustellungsmöglichkeiten bieten, im richtigen Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die sie selbst dadurch gewinnen. Eigens zu diesem Zweck entwickelte Algorithmen können dies gewährleisten. Sie berechnen, welche Zeitfensteroptionen zu welchen (dynamischen) Preisen für eine bestimmte Bestellung verfügbar sind.

Bei Click-&-Collect-Angeboten zeichnet sich ein ähnliches Bild. Auch hier explodiert die Nachfrage und übersteigt die verfügbaren Kapazitäten um ein Vielfaches, wie Einzelhändler berichten. Und auch hier werden typischerweise Zeitfenster für die Abholung der bestellen Ware angeboten, werden jedoch meist auf der Basis „First-come-first-served“ zugeteilt. Ein optimierter Ansatz wäre, in Zeiten von extrem hoher Nachfrage die Kapazitäten dynamisch für prioritäre Kundengruppen zu reservieren und freizugeben, ähnlich wie dies von Fluglinien heute bereits praktiziert wird. Professor Arne Strauss von der WHU – Otto Beisheim School of Management ist überzeugt: „Ein solches Vorgehen könnte bei der Versorgung von prioritären Kundengruppen wie beispielsweise von Gesundheitspersonal helfen, gerade wenn nicht sicher ist, welches Nachfragepotential diese Gruppe hat und wie sie zeitlich verfügbar ist.“

Die Corona-Krise wird auch nach ihrem Höhepunkt die Arbeitswelt beeinflussen. So bekundeten in einer Umfrage des Bayerischen Forschungsinstituts für digitale Transformation (BITD) mehr als zwei Drittel der befragten Arbeitnehmer, dass sie auch weiterhin Interesse hätten, von zu Hause aus zu arbeiten. Flexible Liefer- und Abholzeiten auch nach der Krise anzubieten, erscheint also durchaus sinnvoll. Die Prioritätsgruppen könnten dann über die Häufigkeit ihrer Buchungen und über ihr Umsatzvolumen definiert werden sowie über ihr jeweiliges Verhalten bei der Wahl des Zeitfensters für ihre Abholung. Dies würde auch der Nachhaltigkeit dienen, denn die Studie der WHU/Warwick’s zeigt auch, dass mehr Flexibilität bei den Lieferzeitfenstern generell auch zu effizienteren Fahrtenplänen führt.

So dramatisch die Krise für viele Menschen und Unternehmen heute ist, kann der Lebensmittelhandel die Gelegenheit nutzen und seinen Online-Bereich stärken, insbesondere durch eine Digitalisierung des Zeitfenster-Managements.