Prof. Dr. Miriam Müthel, Lehrstuhlinhaberin für Organizational Behavior an der WHU – Otto Beisheim School of Management, erklärt die Hintergründe dieser Prognose und geht der Frage auf den Grund, was Leadership und gute Mitarbeiterführung in der aktuellen Situation bedeuten.
Es ist eine Zeit für Helden. Das bestätigt ein Blick auf die aktuellen Trends der Streamingdienste. Katastrophenfilme sind hoch im Kurs bei Amazon Prime, Netflix und Co. und geben Aufschluss über ein verbreitetes Bedürfnis der Bevölkerung: jenem nach einer starken Führungsfigur, die Staat und Welt heldengleich durch die Krise navigiert.
„In Situationen wie dieser, die von einem derart hohen Grad an Unsicherheit bestimmt sind, ist der Wunsch nach einer heroischen Führungsfigur verständlich“, erläutert Prof. Miriam Müthel. „Es ist daher nicht verwunderlich, dass mit hoffnungsvoller Erwartung nach heroischen Taten von Führungskräften Ausschau gehalten wird.“ Unbestritten ist die Tatsache, dass bereits der eine oder andere in extremen Situationen über sich hinausgewachsen ist. Aber müssen Führungskräfte zu Helden werden, damit wir COVID-19 bewältigen können?
Krisensituationen definiert Müthel anhand von vier Charakteristika: Sie kommen unerwartet, stellen eine Bedrohung für die Organisation dar, geben keine klaren Lösungsmuster vor und setzen die Betroffenen unter zeitlichen Handlungsdruck. So verhält es sich seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie, so verhielt es sich zum Beispiel auch 1962 bei der Überflutung von Hamburg. Darüber hinaus unterscheidet Miriam Müthel zwischen zwei grundlegend verschiedenen Auffassungen von Führung: die Führungskraft-zentrierte Führung mit der heroischen Führungskraft im Zentrum allen Handelns (Heroic Leadership) und die Mitarbeiter-zentrierte Führung mit einer Führungskraft, die ihre Mitarbeitenden dazu befähigt, eigenständig zu handeln (Empowering Leadership). Ersterer setzt vor allem auf seine eigenen Fähigkeiten, Letzterer auf die aller Beteiligten. Ersterer erteilt detaillierte Anweisungen und erwartet, dass sie befolgt werden, Letzterer verleiht seinen Team-Mitgliedern eigene Entscheidungsgewalten, sodass diese selbstständig und eigenverantwortlich handeln können.
Für seinen Einsatz in der Hamburger Flutkrise wurde der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt gefeiert und zum Helden erhoben. Über Jahrzehnte hinweg bekleidete er in der Wahrnehmung der Bevölkerung die Rolle des heroischen Anführers, ein Bild, das er durch seine Erzählungen selbst mitgestaltete. Nachdem im Angesicht der Corona-Krise wiederholt Stimmen laut geworden waren, die nach einem neuen Helmut Schmidt verlangten, geriet der Altkanzler jedoch vor kurzem in die Kritik. Wie unter anderem der Spiegel am 23. April berichtete, hatten Übertreibungen sowie Teil- und Unwahrheiten seinerseits zu einer inakkuraten Darstellung der Ereignisse geführt. Doch auch wenn sich das Bild der heroischen Führungskraft nach heutigen Erkenntnissen nicht mehr aufrechterhalten lässt, war Schmidts Leistung aus einem ganz anderen Grund herausragend: Schmidt agierte nach dem Mitarbeiter-zentrierten Führungsstil und verkörperte damit ein Führungsideal mit dem er seiner Zeit weit voraus war, wie Müthel erklärt.
Am Beispiel des ehemaligen Bundeskanzlers lassen sich die Erfolgsaussichten von Empowering Leadership in Krisensituationen ausmachen. Professor Miriam Müthel ist überzeugt, dass wir auch in der aktuellen Krise nicht auf einzelne Heldenfiguren setzen und darauf warten sollten, dass diese im Alleingang Herr der Lage werden, sondern Zutrauen in jeden Einzelnen haben sollten, einen relevanten Beitrag zur Bekämpfung von COVID-19 zu leisten. Wir benötigen nicht die herausragende Intelligenz einer einzelnen Führungskraft, sondern die kollektive Intelligenz aller Beteiligten, um eine Chance gegen das Coronavirus zu haben. Führungskräfte, die wir jetzt brauchen, teilen daher ihre Entscheidungsgewalt (aber nicht ihre Verantwortung), kommunizieren klar, vertrauen auf die Fähigkeiten aller Mitarbeitenden und koordinieren das Zusammenspiel aller im Hinblick auf das gemeinsame Ziel. Im Film ist es meist der einsame Held, der die Welt vor dem Untergang rettet. „Die Corona-Krise fordert jeden Einzelnen von uns zum Denken und Handeln auf“, ist Professor Müthel überzeugt. „Gemeinsam werden wir diese schwierigen Zeiten bewältigen. Und wenn wir es geschafft haben, sollten wir uns an diese Erkenntnis erinnern: Was uns ans Ziel bringt, ist nicht die solitäre Heldenfigur, sondern heldenhafte Solidarität.“
Im Rahmen der kostenlosen Online-Seminar-Reihe "Forum Mittelstand" der WHU und der IHK Koblenz wird Prof. Dr. Miriam Müthel am 10.06. ab 16:30 Uhr über Führung in Krisenzeiten sprechen.