Was die Luftfahrtbranche für eine Trendwende benötigt
Roland Schütz - 20. Januar 2021
Das Beispiel Lufthansa zeigt, dass Airlines aktuell stark von ihren Reserven zehren müssen. Der Konzern verliert durch die Krise pro Stunde etwa eine Million Euro an Liquiditätsreserven. Von den 763 Flugzeugen der gesamten Lufthansa Group standen zum Höhepunkt der Corona-Krise im März und April mehr als 90 Prozent still. Dabei sind nicht nur die Flugzeuge kostenintensiv, von denen pro Jahr ein Zehntel der Flotte ausgetauscht werden muss. Auf jedes Flugzeug kommen im Durchschnitt 200 Mitarbeiter, die an Bord, in der Technik und in der IT arbeiten oder mit der Wartung beschäftigt sind. Jede Maschine stellt somit praktisch ihr eigenes mittelständisches Unternehmen dar. Diverse Kosten laufen weiter, auch wenn die Flugzeuge am Boden bleiben.
Wie der Schock der globalen Corona-Pandemie zeigte, war keine Airline auf ein Szenario dieses Ausmaßes vorbereitet. Zwar hatte die Branche schon früher mit Volatilitäten und Unsicherheiten zu kämpfen, konnte diese in den meisten Fällen aber kompensieren. Die aktuelle Krise ist deswegen so verheerend, weil sie weltweit alle Regionen betrifft. Bei zahlreichen Airlines führt dies zu unerwarteten, wirtschaftlichen Schwierigkeiten, da nur geringe Einnahmen erzielt werden. Je nach finanzieller Ausstattung halten die Airlines den Zustand des Ertragsausfalls kürzer oder länger aus. Eine Verbesserung der Situation wird mit der Verfügbarkeit von Impfstoffen erwartet, wobei die Fragen nach der Sicherheit der Impfstoffe und der flächendeckenden Verfügbarkeit eine Entspannung der Situation verzögern können. Bislang zeigte sich jedoch, dass Passagiere im Flugzeug weniger Angst vor einer Infektion haben als mehr vor den Unsicherheiten oder einer drohenden Quarantäne an ihrem Ziel- oder Heimatort. Für die Luftfahrtbranche wird es also keine kurzfristige Erholung auf Vor-Corona-Zeiten geben.
Kernprojekte der digitalen Transformation
Bereits vor der Krise hatte die Lufthansa Group 195 Projekte zur Digitalisierung auf der Agenda. Dabei hat sie insbesondere drei Prioritäten ausgemacht: Cloud-Dienste, Cyber-Sicherheit und Geschäftsanalytik. Die gegenwärtige Ausnahmesituation hat für die IT-Abteilung der Lufthansa mit ihren 5.500 Angestellten den Fokus verschoben. Dennoch wird als übergeordnetes Ziel daran gearbeitet, dass die gesamte Reisekette einfacher werden soll – vom ersten Interesse für eine Reise bis zum Verlassen des Flugzeugs am Zielort. Beispiele dafür sind, dass der Check-in zukünftig per Stimmerkennung gesteuert werden soll. Zudem soll das Smartphone Echtzeit-Benachrichtigungen über Flugzeiten und Abweichungen vom Flugplan erhalten. Schon heute sorgen Algorithmen dafür, dass Passagiere bei Bedarf ohne Zutun des Menschen umgebucht werden können. Ebenso wird an der Vereinfachung der elektronischen und mobilen Zahlungsweise gearbeitet.
Um die Reise zu vereinfachen und Angebote individueller auf den Kunden abzustimmen, wird eine gute Datenbasis benötigt. Da der durchschnittliche Passagier jedoch kein Vielflieger ist und nur einmal jährlich im Flugzeug sitzt, ist es für die Airlines schwierig, ausreichende Daten zu erheben. Diese könnten aber dazu beitragen, dem Kunden während des Flugs ein auf seine Bedürfnisse maßgeschneidertes Produktportfolio anzubieten – ein perfektes Shoppingangebot, das bislang aus Marketingsicht noch kaum erschlossen ist.
Am Aviation Campus von Lufthansa Systems in Raunheim wird ständig an der Umsetzung neuer digitaler Innovationen gearbeitet. Dazu wurde ein Ökosystem geschaffen, in dem die IT der Lufthansa Group, Forschungseinrichtungen, Lieferanten, Startups und Labore, die an der Digitalisierung arbeiten, zusammenkommen. Der Campus soll Synergien zwischen den Partnern fördern und als Ideenschmiede für Verbesserungen dienen.
Langfristige Änderung der Mobilität
Selbst wenn die Corona-Krise morgen auf einen Schlag vorüber wäre, hätte sie schon jetzt gravierende Umbrüche im Mobilitätsverhalten Reisender mit sich gebracht. Sei es in der Freizeit oder bei Dienstreisen: Menschen werden auch in Zukunft Geschäftspartner und Familie treffen oder neue Länder und Kulturen kennenlernen wollen. Gleichzeitig haben sie in der Krise die Erfahrung gemacht, dass Geschäftsreisen häufiger nicht notwendig sind und Abstimmungen oft ähnlich gut über die unterschiedlichen Online-Dienste stattfinden können. Eine Zahl, die diese jüngsten Entwicklungen unterstreicht, ist der Unternehmenswert von Zoom. Die Plattform für Videokonferenzen wird an der Börse mittlerweile mit einer Marktkapitalisierung von deutlich über 110 Milliarden Euro bewertet – nicht nur ein explosiver Anstieg durch Corona, sondern auch mehr als alle börsennotierten Airlines zusammen.
Die Mobilität der Zukunft ist schon dabei, sich zu ändern, und wird sich weniger auf große Flugzeugflotten verlassen. Für die Airlines wird es entscheidend sein, dem Kunden ein individuelles, komfortables und einfaches Angebot zu präsentieren.
Tipps für Praktiker
- Investieren Sie in die Digitalisierung ihres Unternehmens! Diese Transformation wird nicht nur die Mitarbeiter entlasten, sondern auch dem Kunden ein wesentlich passenderes und komfortableres Angebot liefern können.
- Die Mobilität der Zukunft wird sich ändern! Setzen Sie daher lieber jetzt schon auf individuelle Angebote durch Smart Data und einfach nutzbare Dienstleistungen.
- Sorgen sie per Smart Data für ein auf den Kunden individuell abgestimmtes Angebot, was die Vermarktung von Produkten betrifft! Auf Flügen stecken diese Marketingmethoden noch in den Kinderschuhen.
- Den Menschen muss während der Corona-Pandemie beim Fliegen vor allem die Angst vor der Unsicherheit am Zielort genommen werden. Es bedarf verlässlicher, nachvollziehbarer Regeln.
Literaturverweis und Methodik
- Designing feedback in voluntary contribution games: the role of transparency
Irlenbusch, B., Rilke, R., Walkowitz, G. (2019), Experimental Economics, Vol. 22 (2), pp. 552–576
Autor
Dr. Roland Schütz
Dr. Roland Schütz arbeitete von Februar 2017 bis Dezember 2020 als Executive Vice President (EVP) und Chief Information Officer (CIO) der Lufthansa Group. In dieser Funktion war er verantwortlich für die gesamte Informationstechnologie des Unternehmens und die digitale Transformation. Im Zuge dieses Prozesses arbeitete er daran, mit Hilfe von Innovationen und Digitalisierung das Unternehmen gestärkt aus der Corona-Krise herauszuführen. Dr. Roland Schütz wechselte zum 1. Januar 2021 als Vorstand für IT und Digitalisierung zum Mannheimer Pharmahändler Phoenix.