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19.12.2022

Die langanhaltenden Auswirkungen des Kommunismus

Wie Kultur und Institutionen Risikobereitschaft und zeitliche Präferenzen von Menschen beeinflussen

Johannes Schaewitz / Mei Wang / Marc Oliver Rieger - December 19, 2022

Schlüsselerkenntnisse

Unsere Risikobereitschaft und zeitlichen Präferenzen beeinflussen viele Bereiche unseres Lebens und wirken sich beispielsweise auch auf unsere Bildungs- und Berufsentscheidungen aus. Bestimmte Präferenzen, die beispielsweise das Konsum-, Spar- und Investitionsverhalten der Menschen beeinflussen, aber auch Entscheidungen ganzer Gemeinschaften darüber, wie ihre Umwelt-, Gesundheits- oder Sicherheitspolitik ausgestaltet werden soll, sind integraler Bestandteil von Entscheidungsfindungen – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Dies betrifft auch die Bereitwilligkeit, das Risiko einer direkten Konfrontation einzugehen, sei dies dadurch, die Meinung einer Person in Frage zu stellen oder auf staatlicher Ebene gar einen Krieg zu erklären.

Risikobereitschaft und zeitliche Präferenzen – die Grundlagen für viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidungen

Ob Menschen im realen Leben wirklich dazu bereit sind, in bestimmten Situationen ein Risiko einzugehen, lässt sich nicht eindeutig vorhersagen und ihre Präferenzen sind nicht immer eindeutig. Sie können inkonsistent erscheinen und einigen Rationalitätsprinzipien der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft widersprechen. Die jeweiligen Präferenzen sind Phänomene, die von vielen situativen und psychologischen Faktoren abhängen. Verhaltensökonomen haben beispielsweise herausgefunden, dass die Risikobereitschaft eines Menschen in Bezug auf Finanzen davon abhängt, wie die potenziellen Ergebnisse bei Gewinn oder Verlust eingeschätzt werden. In der Regel entscheiden Menschen sich für die sicherste Variante, wenn es um einen potenziellen Gewinn geht (das heißt, sie sind risikoscheu). Umgekehrt gehen sie lieber ein gewisses Risiko ein, wenn es um einen potenziellen Verlust geht (das heißt, sie sind risikofreudiger). „Prospekttheorie“ nennt sich dieses Phänomen. 

In puncto Zeitpräferenzen neigen Menschen dazu, weniger geduldig zu sein, wenn es sich um die nahe Zukunft handelt, aber geduldiger, wenn es um ein Ereignis in ferner Zukunft geht. Diese Erkenntnis wurde beispielsweise von Richard Thaler und seinen Kollegen genutzt, um ein „Save more tomorrow“-Rentensystem (dt.: „Spare morgen mehr“ oder SMarT) zu entwerfen. Das Problem, dass Menschen zu wenig für ihre Altersvorsorge sparen, soll dabei mit einem System gelöst werden, bei dem sie sich verpflichten, im Voraus zu sparen, so dass sie ihre Rente im Laufe der Zeit langsam erhöhen. Die neue Umfrage, die wir für unsere Studie durchgeführt haben, hat bestimmte Präferenzen offengelegt, die sich aus solchen Verhaltensmustern ergeben. Darin haben wir zum Beispiel die Risikobereitschaft gemessen, die Menschen an den Tag legen, wenn es für sie um finanzielle Gewinne oder Verluste geht sowie die Geduld der Menschen bei Geldanlagen mit kurzen und langen Zeithorizonten.

Der Einfluss von Kultur und institutionalisierten Normen auf die Präferenz

In der Wissenschaft wird diskutiert, inwieweit menschliche Präferenzen durch Kultur und institutionalisierte Normen geprägt werden. Neoklassische Ökonomen mögen argumentieren, dass Präferenzen immer dem Rationalitätsprinzip folgen sollten – unabhängig von den beiden vorgenannten Prinzipien – das heißt, dass ein Ziel mit dem geringstmöglichen Einsatz an Mitteln erreicht werden soll, bzw. mit vorhandenen Mitteln ein möglichst großes Maß der Zielerfüllung erreicht werden soll. Die Präferenzen von Menschen können jedoch auch durch ihre gemachten Erfahrungen und sozialen Normen stark geprägt werden. Beispielsweise haben die meisten Bürger, die in kommunistischen Regimen lebten, nie eine Finanzanlage getätigt, da es in diesen Systemen schlicht keine freien Finanzmärkte gab. Wirkt sich das Fehlen einer solchen Erfahrung auch nach Jahrzehnten des Übergangs langfristig auf die Risiko- und Zeitpräferenzen dieser Menschen aus? Sind die Menschen in postkommunistischen Regimen dadurch naiver und weniger „rational“ in ihren finanziellen Entscheidungen?

Unterschiede zwischen dem westlichen und dem postkommunistischen Europa

In unserer Studie finden wir Belege dafür, dass auch drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa immer noch Unterschiede in Bezug auf finanzielle Risiken und Zeitpräferenzen zu beobachten sind, wenn das westlich geprägte und das postkommunistische Europa miteinander verglichen werden. Anhand von Daten aus zwei großflächigen Umfragen – eine für europäische Länder (INTRA) und eine speziell für West- und Ostdeutschland (SOEP) – konnten wir zeigen, dass die Ursachen für diese Unterschiede nicht dieselben sind: Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Erfahrungen während der kommunistischen Ära und der turbulenten Übergangsprozesse, die nach dem Sozialismus folgten, mit stärkeren Verhaltensanpassungen in Bezug auf finanzielle Risikopräferenzen (z. B. stärkere Risikoaversion bei Gewinnen und eine höhere Risikobereitschaft bei Verlusten) sowie mit mehr Impulsivität (das heißt, einem stärkeren Fokus auf die Gegenwart) zusammenhängen könnten. Unterschiede bei der Verlustaversion und der Ausprägung der Geduld sind dagegen höchstwahrscheinlich auf tief verwurzelte kulturelle Unterschiede zurückzuführen, die bis in die Zeit vor dem Aufstieg des Kommunismus zurückreichen. Wir fanden heraus, dass Menschen aus post-zaristischen Ländern ein höheres Maß an Verlustaversion haben und bei Finanzentscheidungen, je nach zeitlicher Auswirkung der Entscheidung, ungeduldiger sind als Menschen aus anderen Regionen der Welt.

Gegenseitiges Verständnis könnte die politische Koordinierung auf staatlicher Ebene verbessern

Die Europäische Union umfasst heute 16 westeuropäische und 11 postkommunistische Staaten (ohne Ostdeutschland), und die Diskussionen und Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft weiterer postkommunistischer Staaten dauern an. Alle EU-Mitglieder arbeiten in wichtigen Institutionen zusammen und müssen ständig Kompromisse erzielen, um eine kohärente europäische Politik aufrechtzuerhalten. Dennoch können frühere formelle und informelle Institutionen langanhaltende Auswirkungen auf die Einstellungen, Überzeugungen und Präferenzen der Menschen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten haben. Da politische Entscheidungen von allen Mitgliedsstaaten einstimmig verabschiedet werden müssen, können die Auswirkungen unterschiedlicher, zugrundeliegender Präferenzen die Verwirklichung von für beide Seiten vorteilhaften Lösungen behindern.

Zudem ist die EU gezwungen, mit postkommunistischen Ländern wie Russland zusammenzuarbeiten. Indem sie sich der unterschiedlichen Risiko- und Zeitpräferenzen bewusstwerden, können politische Entscheidungsträger das Erbe dieser ehemaligen Institutionen und Kulturen besser verstehen und so ihre Erkenntnisse in die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen einbeziehen. Kurzum, auf politischer Ebene könnten Spannungen abgebaut und ein besseres gegenseitiges Verständnis für die politische Agenda der anderen Seite erreicht werden.

Schlüsselerkenntnisse

  • Menschen aus postkommunistischen Staaten, die einen eher erratischen Übergangsprozess durchlaufen haben, neigen stärker zu Verhaltensanpassungen in Bezug auf Risikopräferenzen (das heißt, sie haben ein höheres Maß an Risikoaversion bei Gewinnen und ein höheres Maß an Risikobereitschaft bei Verlusten) als Personen aus postkommunistischen Ländern, die einen reibungsloseren Übergangsprozess erlebt haben.
  • Die in den osteuropäischen Ländern festgestellte stärkere Risikoaversion bei Gewinnen und hohe Risikobereitschaft bei Verlusten könnte sich in relativ kurzer Zeit den weniger risikoaversen und risikofreudigeren Präferenzen der Westeuropäer angleichen, wenn die politischen und wirtschaftlichen Institutionen in den postkommunistischen Ländern stabil bleiben.
  • Tief verwurzelte kulturelle Unterschiede können Verlustaversion und die Geduld beeinflussen: Ein ausgeprägteres Maß an Ungeduld und eine höhere Verlustaversion scheinen bei den Menschen in Osteuropa fest verankert zu sein. Diese Eigenschaften werden sich kurz- bis mittelfristig durch politische und wirtschaftliche Reformen wahrscheinlich nicht ändern lassen.

Literaturverweis und Methodik

Schaewitz, J./Wang, M./Rieger, M. O. (2022): Culture and institutions: Long-lasting effects of communism on risk and time preferences of individuals in Europe, in: Journal of Economic Behavior & Organization, 202 (2022), pp. 785–829. 

Co-Autor der Studie

Dr. Johannes Schaewitz

Dr. Johannes Schaewitz promovierte am Lehrstuhl für Behavioral Finance der WHU – Otto Beisheim School of Management. Als Portfolio-Manager arbeitet er in der Vermögensverwaltung einer deutschen Privatbank. Sein Forschungsinteresse gilt den Themen Behavioral Finance, den Theorien zu Verhaltensentscheidungen, der Beziehung zwischen Kultur und Institutionen und dem interkulturellen Vergleich.

Johannes Schaewitz, WHU

Co-Autorin der Studie

Prof. Dr. Mei Wang

Professor Mei Wang ist Expertin für Verhalten und Kultur im Finanzwesen an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Auswirkungen von Kultur auf individuelle Präferenzen, Entscheidungen und Märkte.

Prof. Dr. Mei Wang

Co-Autor der Studie

Prof. Dr. Marc Oliver Rieger

Prof. Marc Oliver Rieger ist Experte für Bank- und Finanzwesen an der Universität Trier. Seine hauptsächlichen Forschungsfelder sind Entscheidungstheorien, Finanzderivate, sowie Verhalten und Kultur im Finanzwesen.

Prof. Dr. Marc-Oliver Rieger
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