Wie die Wissenschaft das COVID-19-Krisenmanagement der Kanzlerin bewertet
-Expertenmeinung-
Miriam Müthel - 30. März 2021
In der Wirtschaft kennt man dies als das Prinzip des „Failing fast and failing forward“. Angesichts der aktuellen COVID-19-Situation in Deutschland scheint schnelles und effektives Lernen aus Fehlern dringend, wenn nicht sogar zwingend notwendig. Das schnelle Lernen, aber vor allem bessere Problemlösungen sind daher momentan wichtiger als eine Entschuldigung – auch wenn die Geste erfrischend und empathisch ist.
Die Entschuldigung der Kanzlerin ist daher vor allem im Hinblick darauf zu bewerten, ob sie das schnelle und effektive Lernen aus Fehlern – und damit eine höhere Effektivität der deutschen COVID-19 Maßnahmen – kurzfristig beflügelt.
Die Entschuldigung ist beeindruckend, aber nicht, was wir brauchen
Die Kanzlerin sagte am 24.03.2021 zur zurückgenommenen Osterruhe: „Dies ist einzig und allein mein Fehler […]“. Da die Osterruhe allerdings eine Entscheidung der Bund-Länder-Konferenz (d.h. der Bundeskanzlerin UND der Regierungschef:innen der Länder) vom 22./23.03.2021 war, kann sie dafür gar nicht ausnahmslos allein verantwortlich sein – vor allem, da die Einschränkungen des Alltags, wie z.B. Kontaktbeschränkungen und Schließung von Geschäften und Restaurants, Ländersache sind. In der Konsequenz bedeutet ihre Entschuldigung, dass sie bereit ist, die gesamte Schuld für den Fehler und dessen negative Konsequenzen auf sich zu nehmen, obwohl sie dafür nicht ursprünglich alleine verantwortlich ist. Sie zeigt damit, dass sie bereit ist, die entsprechende „Senge“ (berlinerisch für „Prügel“) zu beziehen, wie Sie am 28.03.2021 bei Anne Will sagte. Zugleich unterbindet sie damit aber auch eine offene Diskussion über die Gründe für das kollektive Versagen.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist eine solche offene Diskussion über die Gründe für das kollektive Scheitern allerdings wichtig, da sie es den Beteiligten ermöglicht, aus diesen Fehlern zu lernen und so zukünftig bessere Lösungen zu finden. Die Entschuldigung der Kanzlerin sorgt letztlich dafür, dass genau diese wichtige Diskussion auf kollektiver Ebene ausbleibt. Denn sie nimmt die Ministerpräsident:innen aus der Verantwortung für das dringend notwendige „Failing fast und failing forward“.
Eine Entschuldigung für die Fehler der Vergangenheit oder als Befreiungsschlag für die Zukunft?
Entschuldigungen sind normalerweise rückwärtsgerichtet, d.h. man entschuldigt sich für etwas, das in der Vergangenheit geschehen ist. Entschuldigungen können aber auch vorwärtsgerichtet sein. In diesem Fall ist die Entschuldigung der erste Schritt einer Vorbereitung auf ein zukünftiges Ereignis. Ich entschuldige mich heute, weil ich morgen etwas bewirken möchte und dafür das Zutrauen anderer brauche.
Die Entschuldigung der Kanzlerin könnte klassisch rückwärtsgerichtet sein. Denn, wie sie begründete, trägt sie qua Amt „die letzte Verantwortung“. Allerdings greift dies nicht in dieser Situation. Denn entsprechend des Grundgesetzes bestimmt der Kanzler nur die Richtlinien der Bundespolitik, also weder Landespolitik noch Detailentscheidungen, und hat dementsprechend auch keine Verantwortung für Detailentscheidungen der Landesregierungen im Umgang mit COVID-19. Die Kanzlerin hat damit bewusst mehr Verantwortung für das kollektive Scheitern auf sich genommen als nötig gewesen wäre. Warum tut sie das?
Die Entscheidung würde dann Sinn machen, wenn sie in die Zukunft gerichtet wäre. Denn dann wäre sie ein erster Schritt hin zu einer Verantwortungsverschiebung von der Landes- hin zur Bundesebene. Denn wenn die Kanzlerin (als Verantwortungsträgerin der Regierungs- und damit Bundespolitik) allein schuld ist, dann muss sie auch eine Lösung auf Regierungsebene anbieten. In diesem Fall würde die Entschuldigung zeigen, dass die Kanzlerin das Zutrauen darin verloren hat, dass die Ministerpräsident.innen in der Lage oder überhaupt Willens sind, aus ihren bisherigen Fehlern für das Allgemeinwohl in ganz Deutschland zu lernen (über ihre Partikularinteressen hinaus). Wenn dies so wäre, dann wäre ihre Drohung am letzten Sonntag bei Anne Will nur folgerichtig: Sie drohte mit einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes, durch die der Bund im Vergleich zu den Ländern mehr Durchgriffsmöglichkeiten erhalten würde.
Ihre Entschuldigung – und damit die Bereitschaft, die „Senge“ allein zu ertragen, – könnte somit ein konsequentes Investment sein, um diesen Schritt zu rechtfertigen. Sie übernimmt die volle Schuld, um damit ihr Streben nach voller Verantwortung für die Problemlösung zu begründen. Ganz nach dem Motto: Die Suppe, die ich mir eingebrockt habe, muss ich auch (auf Bundes- statt Länderebene) selber auslöffeln.
Die Entschuldigung selbst könnte sich als Fehler für die Kanzlerin erweisen
Da jedoch Bundestag und Bundesrat in Gesetzesänderungen involviert sind, riskiert die Kanzlerin mit dieser Entschuldigung ihre Glaubwürdigkeit. Denn wenn sie sich nicht durchsetzt – entweder durch die reine Androhung oder durch die tatsächliche Umsetzung einer Gesetzesänderung – dann würde ihre Entschuldigung zeigen, dass sie zwar allein Schuld an der aktuellen Misere hat, aber unfähig ist, diese in den Griff zu bekommen. Erste Kommentare in den Medien im Hinblick auf ihre „mangelnde Durchsetzungsfähigkeit“ (Tagesspiegel 29.03.2021), „fehlende Autorität“ (Tagesspiegel 29.03.2021) oder „entgleitenden Gefolgschaft“ (Zeit Online, 29.03.2021) geben bereits einen Vorgeschmack darauf.
Die Kanzlerin hat sich ihrer Entschuldigung somit selbst unter Zugzwang gesetzt. Jetzt muss sie liefern, sonst wird ihre Entschuldigung für sie selbst zum Fehler, und sie ist, wie die Süddeutsche am 29.03.2021 schreibt, „erledigt“. Sie will es also wissen, und der Showdown wird vermutlich nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Warum die Entschuldigung an sich noch kein Hoffnungsschimmer für die deutsche Fehlerkultur ist
Für Deutschland ist ihre Entschuldigung auf jeden Fall kein gutes Zeichen, denn echtes Lernen aus Fehlern bedarf einer Kultur der offenen Diskussion auf allen Ebenen, sowie einen effektiven und effizienten Lernprozess. Die Androhung der Kanzlerin, die COVID-19-Bekämpfung zur „Chefsache“ zu machen, belegt, dass der kollektive Lernprozess versagt und wir bis auf Weiteres auf kein „Failing forward“ und schon gar kein „Failing fast“ in Deutschland hoffen dürfen. Insgesamt zeigt die Situation also wieder einmal, wie weit wir von einer echten Fehlerkultur in Deutschland noch entfernt sind.
Wirkliche Fehlerkultur braucht mehr Prozessmanagement und Teamwork
Am Ende des Tages – und das wird in der aktuellen Situation umso deutlicher – zählen ausschließlich schnellere und bessere Lösungen. Was momentan fehlt, ist effektives Prozessmanagement. Dazu benötigen wir drei Dinge:
- klare Ziele
- ein stringentes Fehlermanagement sowie
- effektive und agile Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse.
Wir brauchen darüber hinaus allerdings auch die Bereitschaft aller, Verantwortung für das gemeinsame Handeln zu übernehmen und hinter gemeinsamen Entscheidungen zu stehen - ganz einfach mehr Teamwork in unserer Regierung!
Autorin
Prof. Dr. Miriam Müthel
Prof. Dr. Miriam Müthel ist Inhaberin des Lehrstuhls für Organizational Behavior an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Von 2014-2016 war Prof. Müthel zudem Network Fellow am Safra Center for Ethics der Harvard Universität, sowie Visiting Scholar am Minda de Gunzburg Center for European Studies der Harvard Universität im akademischen Jahr 2016/2017. Ihre Forschungsarbeit adressiert die Schnittstelle von Führung, Ethik und internationalem Management. Sie arbeitet u. a. zu Reaktionsstrategien von Unternehmen auf Fehlverhalten, den Umgang mit eigenen Fehlern, sowie der Förderung positiver Fehlerkulturen. Prof. Müthel unterrichtet die Fächer Unternehmensethik, ethische Führung und Organizational Behavior im BSc-, MSc- und MBA-Programm der WHU. Sie unterrichtet zudem den Kurs „Wie man eine positive Fehlerkultur schafft“ im Executive-Teaching-Programm der WHU.