Innovative Ökosysteme brauchen neue Führungskräfte
Dries Faems - 19. Mai 2021
Während sich Unternehmen bislang vor allem darauf konzentrierten, ihren Anteil am Kuchen zu erhöhen, gilt im Innovationsökosystem die Spielregel, gemeinsam die Menge des Kuchens zu erhöhen und anschließend einen fairen Anteil daran zu erhalten. Dieses neue Denken erfordert aber auch eine andere Generation von Innovationsgestaltern. Die aktuelle Corona-Krise treibt Unternehmen dazu, ihre Digitalisierungsstrategien und -bemühungen deutlich zu beschleunigen. Dies wirft die grundlegende Frage auf: Wie können sich Unternehmen in diesem neuartigen Kontext einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil verschaffen?
Um zu den Gewinnern im digitalenZeitalter zu gehören, ist es entscheidend, seinen Kunden nahtlos integrierte Lösungen anzubieten. Wenn wir ein Auto kaufen, erwarten wir nicht nur, dass es uns zuverlässig und sicher von A nach B bringt. Wir erwarten auch eine optimale Nutzungsmöglichkeit unseres Fahrzeugs durch ein integriertes Infotainment-System, das etwa unsere Lieblingsmusik auf Abruf abspielen kann oder uns aktuelle Wetterdaten liefert. Wenn Lieblingszeitung oder -zeitschrift lesen, erwarten wir, dass wir die neueste Ausgabe ohne Aufwand auf verschiedenen elektronischen Geräten herunterladen können und dass wir zusätzlich Podcasts anhören oder Videos ansehen können, die uns weitere Hintergrundinformationen zu Themen liefern, die uns wirklich interessieren.
Neue Kooperationen für neue Angebote
Die Entwicklung solcher nahtlos integrierten Lösungen bedeuten neue Herausforderungen für innovative Manager. Oft verfügen Unternehmen nicht über alle erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, um dem Endnutzer eine derart vollständig integrierte Lösung individuell zur Verfügung zu stellen. Stattdessen müssen Unternehmen Innovationsökosysteme mit einem multilateralen Netzwerk von Partnern aufbauen, um ein neues Wertversprechen für die Nutzer zu schaffen. Um den Apple-Pay-Service einzuführen, musste Apple eine komplexe Konstruktion von Partnerschaften mit Finanzinstituten, Kreditkartenunternehmen, Händlern und Mobilfunkbetreibern errichten, damit Verbraucher ihr Smartphones problemlos für Finanztransaktionen nutzen können. Auch in der Automobilindustrie stellen wir fest, dass Unternehmen zunehmend Innovationsökosysteme aufbauen. Nachdem diese Unternehmen lange Erfahrungen mit vertikalen Partnerschaften, vor allem zu Automobilzulieferern, gemacht haben, sind sie nun gezwungen, noch weiter gefasste und komplexere Kooperationen einzugehen, notwendigerweise auch mit neuartigen Partnern. Der Automobilzulieferer ZF beispielsweise startete 2017 das Projekt einer Blockchain-basierten Wallet, die es autonomen Autos ermöglichen soll, automatisch verschiedene Transaktionen auszuführen, wie z.B. die Entrichtung von Maut- und Parkgebühren oder das Bezahlen von Tankrechnungen. Um diesen neuartigen Service zu realisieren, hat sich ZF mit UBS and IBM zusammengetan. Mit anderen Worten: Das Unternehmen ist nun in einer Partnerschaft mit einem Finanzinstitut und einem Softwareanbieter tätig, die schwerlich zu jenen gehören, mit denen es bisher zusammengearbeitet hat.
Ökosysteme brauchen eine moderne Denkweise
Während die Notwendigkeit von Innovationsökosystemen immer deutlicher wird, tun sich Unternehmen gleichermaßen schwer, solche Zusammenarbeiten zum Erfolg zu führen. Auf der Basis meiner eigenen wissenschaftlichen Forschungen sowie zahlreicher Diskussionen mit Praktikern möchte ich ein entscheidendes Kriterium herausstellen, das für den Aufbau erfolgreicher Ökosysteme unabdingbar ist. Insbesondere bin ich der festen Überzeugung: Damit Ökosysteme erfolgreich sein können, braucht es eine Veränderung der Denkweise. Unternehmen dürfen sich – wie eingangs beschrieben – nicht mehr darauf konzentrieren, den eigenen Anteil am Kuchen zu maximieren, sondern sollten versuchen, gemeinsam den Kuchen insgesamt zu vergrößern, um anschließend einen fairen Anteil davon zu erhalten. Lassen Sie mich zur Veranschaulichung dieses zentralen Aspekts ein etwas ungewöhnliches Beispiel anführen.
Auf den ersten Blick wirkt die Place Jourdan in Brüssel nicht gerade sehr attraktiv. Der Ort wird hauptsächlich von Einheimischen als Parkfläche genutzt, und einige der Häuser rund um den Platz könnten von einer Renovierung gebrauchen. In normalen Zeiten ist die Place Jourdan jedoch einer der beliebtesten Ausgehplätze in Brüssel. Jede Nacht ist er voller Leben, mit Menschen aus unterschiedlichen Nationen, die die Außenterrassen der verschiedenen Bars bevölkern. Nicht nur Durchschnittsbürger, sondern selbst die prominentesten Vertreter der Europa-Szene sind hier zu finden, wenn sie in Brüssel sind. Nach einem der zahlreichen Krisentreffen der jüngsten Vergangenheit wurde zum Beispiel auch Angela Merkel auf der Place Jourdan gesichtet, als sie frisch frittierte Pommes aus der örtlichen Snackbar Maison Antoine in den Händen hielt.
In der Mitte des Platzes gelegen ist diese Snackbar in der Tat der Dreh- und Angelpunkt der Place Jourdan. Der Erfolg von Maison Antoine ist in erster Linie aber nicht dem Geschmack der Pommes Frites zu verdanken. Hauptbestandteil des Erfolgsrezeptes sind die informellen Absprachen mit den Bars in der Nachbarschaft. Denn gerade die Kunden, die ihre Pommes im Maison Antoine gekauft haben, dürfen diese auf den Terrassen der lokalen Bars essen, sofern sie dazu deren Getränke konsumieren.
Mehr Kooperation ist am Ende ein Gewinn für alle
Auf diese Weise zeigt die Place Jourdan recht anschaulich die Kraft von wirtschaftlichen Ökosystemen. Maison Antoine und die umliegenden Bars haben eine Umgebung geschaffen, die den Verbrauchern ein einzigartiges und attraktives kulinarisches Erlebnis bietet. Dieses Ökosystem kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn alle beteiligten Akteure bereit sind, einen Teil des Gewinns den Kooperationspartnern zu überlassen. Zusammen sind sie so in der Lage, gemeinsam einen großen Kuchen zu kreieren und jeder erhält davon einen fairen Anteil.
Das Ende der Alpha-Männchen?
Wie aber können Unternehmen diese neuartige Ökosystem-Mentalität fördern? Nach meiner festen Überzeugung werden jene männlichen Alphatiere, die in den letzten Jahrzehnten vornehmlich die Titelseiten der Wirtschaftsmagazine zierten, nicht die Triebkräfte eines solchen kulturellen Wandels sein können. Diese Sorte von Führungskräften war äußerst erfolgreich darin, ihre Unternehmen in sehr wettbewerbsintensiven Umgebungen zu navigieren, in denen der Schwerpunkt auf einer aggressiven Erhöhung des Kuchenteils für das eigene Unternehmen lag. Meiner Meinung nach wird dieser Führungsstil wahrscheinlich scheitern, wenn ein Unternehmen in komplexen Ökosystemen tätig ist, in denen die Interessen verschiedener Unternehmen aufeinander abgestimmt werden müssen, um einen gemeinsam geschaffenen Kuchen zu vergrößern.
Stattdessen brauchen wir eine neue Generation von Leadern, die in der Lage sind, als Diplomaten zu fungieren und eifrig nach einer akzeptablen Win-Win-Situation für alle beteiligten Akteure dieser Ökosysteme zu suchen. Ich glaube auch, dass der Bedarf an einem neuartigen Führungsstil eine bedeutsame Chance für eine jüngere Generation von ehrgeizigen Persönlichkeiten ist. Gemeinsam kreative Strukturen in „Minecraft“ aufzubauen, gemeinsam die Schurken auf Multiplayer-Plattformen wie „Roblox“ auszuschalten, dies sind zwei Beispiele dafür, wie die gegenwärtige Generation der Jugendlichen im Alltag lernt, einen gemeinsamen Kuchen zu vermehren. Ich bin zuversichtlich, dass diese Generation über die Fähigkeiten und die Denkweisen verfügen wird, um die nächste Welle erfolgreicher Innovationsökosysteme zu reiten.
Tipps für Praktiker
- Denken Sie über völlig neue Kooperationen nach. Sie könnten Ihr Geschäftsmodell erweitern und neue Kundenkreise erschließen.
- Suchen Sie Win-Win-Situationen und nicht den größten Vorteil für sich
- Denken Sie daran: In Ökosystemen profitieren am Ende alle davon, wenn der gemeinsame Kuchen gemeinsam vergrößert wird. Bauen Sie also auf eine neue Denkweise und seien Sie lieber ein Diplomat als ein Alphatier!
Literaturverweis und Methodik
-Gerpott F. H./Rivkin, W./Diestel, S. (2023): Keep it steady? Not only average self-control demands matter for employees’ work engagement, but also variability, in: Work & Stress, DOI: 10.1080/02678373.2023.2180784.
Autor
Prof. Dr. Dries Faems
Prof. Dr. Dries Faems ist Inhaber des Lehrstuhls für Entrepreneurship, Innovation and Technological Transformation an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Er ist Experte für Zusammenarbeit bei Innovationen. In seiner Forschung und Lehre befasst sich Prof. Faems mit Inhalten wie Allianzen für Forschung und Entwicklung, Zusammenarbeit bei der digitalen Transformation und Innovations-Ökosysteme. Er koordiniert außerdem den WHU Innovation Ecosystem Hub, der darauf abzielt, Wissenschaft und Praxis bei der Zusammenarbeit für gemeinsame Innovationen zu vernetzen.