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01.02.2022

Augmented Reality, Virtual Reality und Mixed Reality

Hype oder Gamechanger für das Sportbusiness?

Sascha L. Schmidt / Johannes Fühner - 01. Februar 2022

Tipps für Praktiker

Im Sommer 2016 erlebten viele Leute beim Stadtspaziergang ein gänzlich neues Phänomen: Menschen irrten auf belebten Straßen umher – den Blick immer auf ihr Handy gerichtet – und versuchten ein virtuelles Pokémon in der realen Welt zu entdecken. Die erste große Erfolgsstory der Augmented Reality war geboren. Im Juni 2021 feierte das Spiel Pokémon Go seinen fünften Geburtstag und blickt auf Umsätze von circa fünf Milliarden US-Dollar und mehr als 600 Millionen App-Downloads zurück.

Die Anwendung von Augmented Reality bei Pokémon Go ist inzwischen nur eins von vielen Beispielen für den Einsatz sogenannter Extended Realities. Um den Markt besser zu verstehen, ist es zunächst wichtig, die verschiedenen Begrifflichkeiten voneinander abzugrenzen. Der Terminus Extended Reality versteht sich als Sammelbegriff, unter den verschiedene Technologien wie Augmented Reality (AR, erweiterte Realität), Virtual Reality (VR, virtuelle Realität) und Mixed Reality (MR, gemischte Realität) fallen.

Schon heute ist der Gesamtmarkt für Extended Reality rund 31 Milliarden US-Dollar schwer und soll sich bis 2025 auf dann 297 Milliarden US-Dollar nahezu verzehnfachen. Die Marktgröße ist also vergleichbar mit anderen Schlüsseltechnologien wie Robotik oder Künstlicher Intelligenz. Auch im Sport ist das Thema längst angekommen und ermöglicht vor allem völlig neuartige Fanerlebnisse. In diesem Artikel diskutieren wir deshalb ausgewählte Anwendungsfälle und geben einen Ausblick, was diese zukünftig für das Sportbusiness bedeuten.

Anwendungsfall Medien: Vom Wohnzimmer aufs Spielfeld

Der Einsatz von AR in Fernsehübertragungen ist im Sport längst etabliert. Zu den bekannten Beispielen zählen etwa die „First-Down-Linie“ im American Football, die Flugbahnkurve im Golf oder Weitenlinien im Skispringen. Auch VR-Anwendungen gibt es schon seit mehreren Jahren. Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro wurden erstmals großflächig VR-Übertragungen durchgeführt. So konnten Samsung-Nutzer fast 100 Stunden Live-Sport erleben, sofern sie in Besitz eines Gear VR Headsets waren. Dieses musste zuvor für einen Neupreis von circa 100 Euro erworben werden.

Vorreiter für Extended Reality sind aber seit jeher Gaming und eSports. Einer PwC-Studie zufolge entfallen in Deutschland rund ein Drittel aller VR-Umsätze auf Gaming. Auch im eSport erfreuen sich VR-fähige Simulationen zunehmender Beliebtheit. So gründete die Electronic Sports League (ESL) im Jahr 2018 zusammen mit Oculus unter dem Namen VR League sogar eine VR-spezifische Wettbewerbsserie, die derzeit in vier verschiedenen Titeln ausgetragen wird.

Die VR-Erfahrung bietet dabei nicht nur für den Gamer, sondern auch für Zuschauer eine spannende Möglichkeit, das Spielgeschehen hautnah zu erleben. So hat Sony im September 2019 ein weltweites Patent für eSport-Events angemeldet, bei denen Zuschauer über eine soziale, interaktive VR-Anwendung an der Veranstaltung teilnehmen können. Die Entwicklung befindet sich allerdings derzeit – trotz dieser Pilotprojekte – noch in einem sehr frühen Stadium. Auch im Fußball haben viele Clubs und Ligen bereits damit begonnen, auf Basis von Extended Reality das mediale Erlebnis zu verbessern. Ein bekanntes Beispiel ist die Partnerschaft zwischen Manchester City und Jaunt VR. Die Firma Jaunt VR, welche unter anderem Disney und Axel Springer zu ihren Investoren zählt, entwickelte für Manchester City eine VR-Plattform, über die Fans aus aller Welt die Spielerkabine betreten können und gemeinsam mit ihren Stars einlaufen. In der Bundesliga hat unter anderem der 1. FC Köln im Jahr 2018 erstmals mit einer AR/VR-App experimentiert, in der Fans ein virtuelles Museum besuchen können oder sich die Mannschaftsaufstellung am Spieltag projizieren lassen können.

Die DFL kooperiert unter anderem mit AIM, das länderspezifische Bandenwerbung über sogenannte Digital Overlays anbietet. Darüber hinaus testet die DFL verschiedene Innovationen im Bereich AR. Beispielsweise bekam eine Gruppe von Testpersonen die Gelegenheit, das Spiel um den Supercup 2021 zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund über spezielle Brillen, sogenannte „Smart Glasses“, als AR-Projektion zu verfolgen. Der Livestream des Spiels war dabei auf einem virtuellen Fernsehbildschirm in der Brille zu sehen. Zusätzlich angezeigt wurden informative Elemente wie Echtzeitstatistiken und Spielgrafiken sowie ein „Miniaturspielfeld“, auf dem per 3D-Projektion die Positionen aller Spieler zu sehen waren.

Die Nutzerinnen und Nutzer hatten zudem vielfältige Möglichkeiten zur Interaktion, konnten On-Demand-Inhalte wie Live-Statistiken zu allen Spielern aufrufen – etwa eine Heatmap oder die aktuelle Geschwindigkeit eines Spielers – und die Wiederholung einzelner Szenen in 3D anfordern. Die Anwendung nutzt die Plattform ARISE, die von dem französischen Start-up Immersiv.io, einem Spezialisten für AR-Technologie im Sport, entwickelt wurde. Immersiv.io unterstützte die DFL und Vodafone bereits 2019 bei der Entwicklung einer 5G-Stadion-App.

Noch stecken viele der oben genannten Bemühungen der Sportrechtehalter in den Kinderschuhen. Es ist aber zu erwarten, dass sich in Zukunft Technologien der Extended Reality qualitativ verbessern und zugleich kosteneffizienter werden. Mit sinkenden Kosten der Hardware entstehen vielfältige Möglichkeiten für Sportorganisationen, um das Fan-Engagement im Hinblick auf globale Fansegmente zu stärken.

Anwendungsfall Stadion: Von der Tribüne aufs Spielfeld

Betrachtet man die sich stetig verbessernden Möglichkeiten, seinen Lieblingssport aus der Ferne zu konsumieren, so stellt sich die durchaus brisante Frage, in welcher Form es in Zukunft das Live-Erlebnis im Stadion überhaupt noch braucht. Eines ist jedenfalls sicher: Der Druck für die Veranstalter wächst, den Stadionbesuch in Zukunft attraktiver zu gestalten. Extended Reality kann einen Teil dazu beitragen, damit dieses Vorhaben gelingt.

Die Pioniere in diesem Bereich kommen einmal mehr aus dem US-Sport. In der NBA hat Vodafone einen AR-Piloten gestartet, bei dem die Hallenbesucher zum Beispiel Spieler auf dem Feld per Smartphone antippen können und anschließend Live-Statistiken angezeigt bekommen. Auch in der NFL wird in dieser Hinsicht fleißig experimentiert. Die Minnesota Vikings bieten schon seit rund vier Jahren AR-Anwendungen über ihre App an. Im Jahr 2019 startete das NFL-Team eine Kooperation mit Pepsi und führte ein AR-Spiel unter Stadionbesuchern in Echtzeit ein. Ein anderes Beispiel sind die Dallas Cowboys. Dort gibt es im Stadion einen Foto-Kiosk, wo sich Besucher über AR im Gruppenbild mit ihren persönlichen Lieblingsspielern ablichten lassen können. Laut Angaben der Dallas Cowboys konnten mit dieser Aktion über 50 Million Social Media Impressions generiert werden.

Neben AR bietet auch MR vielversprechende Ansatzpunkte, um neue Fanerlebnisse im Stadion zu begünstigen. Forscher von der Universität Glasgow arbeiten derzeit an Hologrammen, die mit haptischen Eigenschaften versehen sind. Als Stadionbesucher könnte man damit virtuelle Gegenstände oder Personen anfassen und bewegen. Ein erstes Beispiel lässt sich bei den Carolina Panthers beobachten, wo im Rahmen der Saisoneröffnung 2021 ein projizierter Panther in Übergröße quer durch das reale Stadion hüpfte.

Ein weiteres Zukunftsszenario bildet der Aufbau von Satellitenstadien. Hier geht es darum, dass das „echte“ Sportereignis live per 360-Grad-Video dreidimensional über VR oder MR in ein Satellitenstadion projiziert wird. Dies ermöglicht auch denjenigen Fans den Stadionbesuch, die weit von ihrem Lieblingsteam entfernt wohnen. Erste Versuche in diese Richtung befinden sich bereits in der Umsetzung. Ein Beispiel ist das Caesars Sportsbook in Las Vegas, wo Besuchern über 143 LED-Bildschirme eine stadionähnliche Atmosphäre vermittelt wird. Auch im Manchester United Experience Center in China bekommen Fans über eine VR-Lösung die Möglichkeit, virtuell das Old Trafford zu besuchen.

Natürlich ist es heute noch völlig unklar, ob Satellitenstadien zukünftig in der Lage sein werden, die gleiche Emotionalität wie ein Live-Erlebnis zu transportieren. Unabhängig davon werden analoge und digitale Welt aber zunehmend miteinander verschmelzen. Technologieexperten aus dem Silicon Valley wie Microsoft-CEO Satya Nadella sprechen in diesem Zusammenhang vom sogenannten „Metaverse“, in dem reale und virtuelle Charaktere miteinander interagieren können. Experten sehen im Metaverse die nächste Evolutionsstufe des Internets, das nicht zuletzt seit der Umbennenung Facebooks in den neuen Namen "Meta" in aller Munde ist. Ein Vorreiter für das Metaverse ist das Segment Gaming. So tauchte im April 2020 der US-Künstler Travis Scott in die virtuelle Welt von Fortnite ein und lockte mit seinem Live-Konzert mehr als zwölf Millionen Live-Views an.

Es bleibt festzuhalten, dass Sportorganisationen neue Wege finden müssen, um die Einzigartigkeit eines Stadionbesuches aufrechtzuerhalten, zumal derzeit noch unklar ist, wie sich die Ticketnachfrage mittelfristig nach der Corona-Pandemie entwickeln wird. Extended Reality kann dabei helfen, neuartige Fanerlebnisse im Stadion zu schaffen.

Anwendungsfall Training: Wettbewerbsvorteile ausschöpfen

Viele Freizeitsportler kennen es aus dem Fitnessstudio: moderne Fitnessgeräte erlauben das Eintauchen in virtuelle Welten, in denen man seine Laufstrecke in einer weit entfernten Metropole zurücklegen oder einen berühmten Berg der Tour de France erklimmen kann. Spätestens seit dem Erfolg von Peloton und Zwift ist sogar das Sporttreiben im eigenen Wohnzimmer zur Selbstverständlichkeit geworden. In diesem Zusammenhang hat unter anderem Facebook-CEO Mark Zuckerberg mehrfach seine Überzeugung kundgetan, welches riesige Potenzial in der Sportbranche durch Extended Reality entsteht.

Neben dem Freizeitsport kann Extended Reality aber auch im professionellen Sport die Trainingsmöglichkeiten verbessern. Der erste bekannte Anwendungsfall liegt schon über 20 Jahre zurück, als das US-Team im Bobfahren einen VR-Simulator einsetzte, um sich auf die olympischen Winterspiele 1998 in Nagano vorzubereiten. Seitdem hat sich sehr viel getan, wie einige aktuelle Beispiele zeigen:

Im American Football sorgt die Firma Strivr für Aufsehen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Team der Stanford University VR-basierte Trainingsprogramme anbietet. Auch im Basketball testet Strivr ähnliche Ansätze, bei denen Sportler nicht mehr länger ausschließlich auf dem Spielfeld trainieren, sondern via VR-Brille auch in der Umgebung einer künstlich erzeugten Realität. So können Spieler etwa trainieren, ihren Blick aufs Wesentliche zu lenken, um später bessere Entscheidungen auf dem Spielfeld zu treffen.

Im europäischen Fußball gibt es ebenfalls erste Aktivitäten, zum Beispiel über das Unternehmen Rezzil, das während der Corona-Pandemie VR-basiertes Training in der Premier League durchgeführt hat. In einer Seed-Finanzierung hat das Start-up rund zwei Millionen Pfund eingesammelt. Zu den Investoren zählen unter anderem die Ex-Profis Gary Neville und Vincent Kompany.

Abseits des Ballsports ist zum Beispiel das Startup RideOn Vision interessant, das smarte Ski-Brillen entwickelt, die Routenvorschläge geben und die Streckenzeit auf der Piste erfassen. Das Unternehmen bereitet sich nach erfolgreichen Pilotprojekten derzeit auf die Serienproduktion vor.

Aktuell ist der Mehrwert im Training noch auf sehr spezifische Anwendungsfelder begrenzt. Langfristig ist die Technologie aber sowohl für den Spitzen- als auch den Breitensport relevant. Der große Vorteil von Extended Reality ist, dass man überall und jederzeit trainieren kann, ohne auf einen Trainingspartner angewiesen zu sein.

Fazit

Schon heute gibt es eine Vielzahl von erfolgreichen Anwendungsbeispielen für Extended Reality im Sport. Schreitet der technologische Reifegrad in ähnlichem Tempo voran, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich skalierbare Geschäftsmodelle etablieren. Insbesondere aufgrund der hohen Relevanz für junge Zielgruppen sollten sich Entscheidungsträger im Sportbusiness schon heute mit dem Thema befassen.

Tipps für Praktiker

  • Sprechen Sie die junge Zielgruppe effektiver an! Es ist kein Geheimnis, dass sich Generation Z durch ein völlig verändertes Konsumverhalten auszeichnet. In diesem Zusammenhang kann der traditionelle Sport viele Lehren aus dem eSport ziehen, der es als „born digital“ bestens versteht, junge Zielgruppen anzusprechen. Extended Reality ist hierbei ein wichtiger Teil der Erfolgsformel.
  • Richten Sie Ihr Denken auf die Fans aus! Auch in Zukunft werden Fans den Sport als gemeinschaftliches Erlebnis verstehen, in der die soziale Interaktion mit Gleichgesinnten eine zentrale Rolle einnimmt. Die Kernelemente des Sports wie Emotion, Spannung und Wettkampf bleiben elementarer Bestandteil. Berücksichtigen Sie das bei neuen Anwendungen von Extended Reality.
  • Beginnen Sie frühzeitig zu experimentieren! Auch wenn Extended Reality heute noch als Nische erscheint, sollten Sportorganisationen frühzeitig beginnen, ihre eigenen Erfahrungen damit zu sammeln. Die gigantischen Wachstumsprognosen sind ein klarer Hinweis darauf, dass Extended Reality mittelfristig auch im Sportbusiness flächendeckenden Einsatz finden wird.

Literaturverweis und Methodik

Autoren der Studie

Prof. Dr. Sascha L. Schmidt

Sascha L. Schmidt ist Professor, Lehrstuhlinhaber und Leiter des Center for Sports and Management (CSM) an der WHU – Otto Beisheim School of Management am Standort Düsseldorf. Gleichzeitig ist er akademischer Leiter der SPOAC - Sports Business Academy by WHU und Affiliate Professor am Laboratory for Innovation Science at Harvard (LISH) der Harvard University in Boston/USA. Schmidt widmet sich der „Zukunft des Sports“ als einem seiner zentralen Forschungsschwerpunkte.

Johannes Fühner

Johannes Fühner ist Doktorand am Center for Sports and Management an der WHU – Otto Beisheim School of Management in Düsseldorf und Programm-Manager der SPOAC (Sports Business Academy by WHU). Im Rahmen seiner Promotion beschäftigt er sich mit Diversifikationsstrategien im Profisport und analysiert die Frage, inwiefern Sportorganisationen von diversifizierten Geschäftsmodellen profitieren können. In diesem Zusammenhang untersucht er auch den Einfluss neuer Technologien auf die Sportbranche.

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