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03.03.2021

Digitale Anlageklassen – Auswirkungen auf europäische Banken und Vermögensverwalter

Wie Bitcoin und Co die traditionelle Bankenwelt verändern (Teil 1/7)

Axel Wieandt - 03. März 2021

Tipps für Praktiker

Im Januar 2009 stand das globale Finanzsystem an der Schwelle des Zusammenbruchs. In dieser Phase wurde der Bitcoin zum ersten Mal von Satoshi Nakamoto anonym angeboten. Als elektronisches Peer-to-Peer Bezahlungssystem, das auf DLT in seiner speziellen Ausprägung als Blockchain basierte, versprach die erste Kryptowährung Dezentralisierung, Unveränderbarkeit und die Pseudo-Anonymität einer regelbasierten Transaktionsdatenspeicherung. Gewährleistet wurde dies durch ein offen zugängliches Softwareprotokoll, das verschlüsselte, aneinandergekettete Datenblöcke in einer Datenbank abspeichert, die ohne zentrale Verwaltung funktioniert. Ethereum, eine Blockchain der nächsten Generation, die 2013 von Vitalik Buterin vorgeschlagen und 2015 auf den Markt gebracht wurde, fügte der bisherigen Technologie sogenannte Smart Contracts hinzu, eine dezentrale Anwendungsschicht, welche die vorprogrammierte, automatisierte Ausführung von kodiertenVerträgen ermöglicht. Fast alle technischen Komponenten der Open-Source-Protokolle von Bitcoin und Ethereum, zu denen verknüpfte Zeitstempel, bzw. Merkle-Bäume, Proof of Work, byzantinische Fehlertoleranz, öffentliche Schlüssel als Identitäten und Smart Contracts gehören, haben ihren Ursprung bereits in den wissenschaftlichen Arbeiten zu Kryptologie, Netzwerk-Computing und der Spieltheorie der 1980er und 1990er Jahre.

Kryptowährungen als neue Klasse digitaler Vermögenswerte

Heute, mehr als ein Jahrzehnt nach der ersten Verfügbarkeit von Bitcoin und fünf Jahre nach dem Start von Ethereum, ist das europäische Finanzsystem stabiler, aber seine grundsätzliche Anfälligkeit für Bankenkrisen und Blasenbildungen bei Vermögenswerten bleibt unverändert. Obwohl noch nicht als grenzüberschreitendes Zahlungsmittel etabliert, hat sich Bitcoin Ende 2020 als führende Kryptowährung mit einem Marktanteil von rund 70 Prozent durchgesetzt. Die Kryptowährung wird vor allem zu Spekulationszwecken und faktisch als Leitwährung des Krypto-Universums genutzt, sozusagen als digitales "Gold". Ethereum ist mit 60 Milliarden Euro Marktkapitalisierung Ende 2020 die zweitwertvollste Kryptowährung. Sie hat sich als die globale Open-Source-Blockchain für Unternehmen etabliert und kommt als solche für Nutzer ohne zentrale Zugangskontrollen aus. Ende 2020 betrug die gesamte Marktkapitalisierung aller 8.100 Kryptowährungen 725 Milliarden US-Dollar. Im Januar 2021 überstieg der Wert aller Kryptowährungen erstmals die Marke von einer Billion US-Dollar, was im Verhältnis zum Wert klassischer Vermögenswerte wie Immobilien, Anleihen, Aktien oder Gold immer noch gering ist.

Das dynamischste und innovativste Segment im Blockchain-Universum ist das "dezentrale Finanzwesen" (DeFi). DeFi ist eine experimentelle Form der Finanzierung, die sich nicht auf zentrale Finanzdienstleister verlässt und stattdessen Smart Contracts auf Blockchains – zumeist Ethereum – um Bank- und Kreditdienste anzubieten. Bis Ende 2020 wurden Kryptowährungen im Wert von 19 Milliarden US-Dollar in verschiedene dezentrale Finanzanwendungen "investiert". Anfang Februar 2021 war bereits die Marke von 40 Milliarden US-Dollar überschritten.

Trotz erheblicher Volatilität und technologischer sowie rechtlicher Risiken wächst die Nachfrage nach Kryptowährungen durch Investoren – zunächst nur durch Krypto-Enthusiasten, mittlerweile aber auch zunehmend durch Privatkunden und insbesondere Millenials, vermögende Privatpersonen, Familienbetriebe, Institutionen und andere mehr. Diese Investoren benötigen neue Börsen-, Handels- und Depotdienstleistungen für ihre Kryptowährungen, welche die meisten Banken und Vermögensverwalter derzeit nicht anbieten.

Mögliche Störung des Zahlungsverkehrs durch stabile Kryptowährungen

Sogenannte Stablecoins („wertstabile“ Kryptowährungen) haben sich als zweite Krypto-Kategorie etabliert. Beispiele sind Tether oder USD Coin. Stablecoins sind Kryptowährungen, die darauf ausgelegt sind, die Preisvolatilität relativ zu einem "stabilen" Vermögenswert oder einem Korb von Vermögenswerten gering zu halten. Ein Stablecoin kann an eine Kryptowährung, an Fiat-Geld oder an börsengehandelte Rohstoffe wie Edelmetalle gekoppelt sein. Das prominenteste Beispiel für einen Stablecoin ist Libra, ein von Facebook ins Leben gerufenes weltweites Projekt, das mit einem Korb der international wichtigsten Währungen hinterlegt werden soll. Libra oder Diem, wie das Projekt seit dem jüngsten Relaunch als einfacherer, US-Dollar-gedeckter Stablecoin auch genannt wird, könnte 2,5 Milliarden Facebook-Nutzer weltweit erreichen und die Souveränität kleinerer Zentralbanken in Frage stellen. Stablecoins haben in Ermangelung von digitalen Zentralbankwährungen (CBDC) das Potenzial, den traditionellen Zahlungsverkehr zu revolutionieren, weil sie – außerhalb des Banken- und Zahlungsverkehrssystems - die sofortige Übertragung von Werten über das Internet ermöglichen.

Security Tokens werden das Wertpapiergeschäft grundlegend verändern

Neben Kryptowährungen und Stablecoins setzen sich nach und nach auch sogenannte Security Tokens durch. Dabei handelt es sich um Eigentumsrechte, unter anderem an Vermögenswerten wie zum Beispiel Wertpapieren, die auf einer Blockchain oder einem System verteilter Kassenbücher registriert sind. Die Tokenisierung von Wertpapieren ermöglicht direktes Eigentum und wird Barrieren im Handel beseitigen. Durch den Wegfall von Brokern, Clearingstellen und anderen Mittelsmännern können Provisionen und andere Gebühren entfallen, was zu einer Senkung der Transaktionskosten führen würde. Die unmittelbare Abwicklung über DLT/Blockchain wird Liquidität freisetzen und die Abwicklung durch ein Kreditinstitut überflüssig machen. Beobachter gehen davon aus, dass die Durchdringung des Marktes mit Wertpapier-Tokens schnell auf einen Gegenwert von mehreren Prozentpunkten des Bruttoinlandsprodukts anwachsen kann. Nicht nur Wertpapiere können tokenisiert werden, sondern auch das Eigentumsrecht an jeder Art von Anteilen an physischen oder immateriellen Vermögenswerten wie etwa an einem Kunstwerk, einer Immobilie, an geistigem Eigentum oder an der geistigen Identität. Somit bringt der Trend zur Tokenisierung eine große Welle von Disruptionen mit sich, welche die Transaktionskosten für wirtschaftliche Aktivitäten weit über die Wertpapierbranche hinaus deutlich reduzieren könnten. Das Weltwirtschaftsforum hat kürzlich prognostiziert, dass sämtliche auf Blockchain/DLT gespeicherte Vermögenswerte bis 2027 ein Volumen von 10 Prozentpunkten des globalen BIP erreichen werden.

Europäische Banken und Vermögensverwalter fallen bei Dienstleistungen für digitale Vermögenswerte hinter die US-Konkurrenten zurück

Alle drei Kategorien von digitalen Vermögenswerten – Kryptowährungen, Stablecoins und Security-Tokens – können außerhalb des Bankensystems in elektronischen Geldbörsen, sogenannten E-Wallets, hinterlegt werden. Ein traditionelles Wertpapierdepot ist nicht länger erforderlich. Bislang fanden die Entwicklungen in diesen drei Kategorien weitgehend ohne die Beteiligung europäischer Banken und Vermögensverwalter statt. Zwar wurde die zugrundeliegende Blockchain/DLT in anwendungsbezogenen Experimenten in Konsortien von Wettbewerbern getestet, doch aufgrund der Anonymität (Stichwort: Geldwäsche- und Terrorfinanzierungsrisiken) und Volatilität (Stichwort: Verbraucherschutz) meiden traditionelle Banken und Vermögensverwalter Kryptowährungen bislang weitgehend. Das US-Unternehmen Fidelity startete als erster großer Vermögensverwalter eine eigene institutionelle Plattform zur Verwaltung digitaler Vermögenswerte. Aufgrund massiver politischer Widerstände und erheblicher regulatorischer Unsicherheiten haben sich bisher keine Banken am Stablecoin-Konsortium Libra beteiligt. Bislang ist die US-Bank JP Morgan die einzige Bank, die einen eigenen Stablecoin, den JP Morgan Coin, als Teil ihrer Open Banking API-Plattform zur Liquiditätssteuerung und als Vermögensdepot entwickelt hat. Der JP Morgan Coin wurde auf der selbstentwickelten, Ethereum-basierten, open-source Quorum-Blockchain umgesetzt, die sich mittlerweile im Besitz des Technologieunternehmens Consensys befindet. Goldman Sachs, ein weiterer Wallstreet-Gigant, hat sich durch ein Investment in den Krypto-Depotverwalter Bitgo und in den Krypto-Finanzierer Circle Zugang zum Krypto-Universum verschafft. Circle wiederum hat den USD Coin, einen US-Dollar-hinterlegten Stablecoin, auf den Markt gebracht.

Europäische Banken und Vermögensverwalter sollten für ihre Kunden ein Serviceangebot für digitale Vermögenswerte aufbauen

Die abwartende Haltung der europäischen Banken und Vermögensverwalter könnte sich jedoch bald aus zwei Gründen ändern. Zum einen sollen Kryptowährungen, Security Tokens und Stablecoins mit der geplanten EU-Richtlinie „Markets in Crypto Assets“ (MiCA) in die bestehende Finanzmarktregulierung integriert werden. Die EZB hat, getrieben von den Entwicklungen in China (Stichwort: Digital Currency Electronic Payment [DCEP]) und dem Libra-Projekt, ihre ersten Überlegungen zum Digitalen Euro weiter konkretisiert und den Projektstart für Mitte 2021 angekündigt. Die Kombination aus einem stabilen rechtlichen und regulatorischen Rahmen sowie dem Digitalen Euro könnte digitalen Vermögenswerten in diesem Jahrzehnt zum Durchbruch im europäischen Finanzsystem verhelfen. Europäische Banken und Vermögensverwalter sollten daher verstärkt in praktisches Digital-Asset-Know-how investieren, sei es durch den Aufbau von Spezialisten-Teams, Kooperationen mit Krypto-Fintechs und/oder direkte Investitionen in Start-ups. Konkret sollten sie ihre Investitionen auf drei Schnittstellen des digitalen Anlage-Universums konzentrieren:

  1. Die Privat- und Firmenkundenschnittstelle, also die Entwicklung von programmierbaren E-Wallets und darin eingebetteten Finanzlösungen;
  2. die institutionelle Schnittstelle, insbesondere die Entwicklung von Krypto-Börsen-, Vermögensverwaltungs- und Depotdienstleistungen, wie z.B. die Partnerschaft zwischen BNP Paribas und der cloudbasierten Wallet-Plattform Curv; und schließlich
  3. die Schnittstelle zum Zahlungssystem, also zu SEPA oder dem TARGET-System.

Größere europäische Banken sollten diese Schnittstellen in enger Zusammenarbeit mit den Infrastrukturbetreibern dauerhaft im Fokus behalten. Andernfalls riskieren sie, im Wettlauf um ein offeneres, nutzerfreundlicheres und effizienteres Finanzsystem von Krypto-Fintechs wie Binance oder Coinbase, Neo-Banken und -Brokern wie Revolut, Robinhood oder Bitpanda, Online-Zahlungsdienstleistern wie PayPal und Social-Media-Giganten wie Facebook den Anschluss zu verlieren. Der Vorteil der etablierten Banken und Vermögensverwalter ist das Vertrauen ihrer Kunden und der regulatorische Schutz. Wenn sie das disruptive Potenzial von Blockchain und DLT schnell erkennen, haben sie noch die Chance, die Zukunft des Finanzmarkts mitzugestalten.

Tipps für Praktiker

  • Erkennen Sie die transformative Kraft von DLT und Blockchain bei der Digitalisierung von Vermögenswerten!
  • Investieren Sie in praktisches Wissen über digitale Vermögenswerte, indem Sie Spezialisten-Teams zusammenstellen, mit Krypto-Fintechs zusammenarbeiten und Schnittstellen für Open Banking und offenes Vermögensmanagement schaffen, und/oder investieren Sie direkt in Start-ups.
  • Folgen Sie den Vorstellungen Ihrer Kunden und bieten Sie programmierbare E-Wallets an. Bieten Sie flexible Wege in digitale Vermögenswerte und wieder heraus.
  • Suchen Sie die Kooperation mit Mitbewerbern und Infrastrukturbetreibern, um die Einführung digitaler Vermögenswerte voranzutreiben.
  • Nutzen Sie Technologien, die Ihnen helfen können, ein effizienteres, widerstandsfähigeres und stärker integriertes Finanzsystem aufzubauen.

Literaturverweise

Autor

Prof. Dr. Axel Wieandt

Axel Wieandt – vormals CEO/CFO einer DAX-30-Bank, Global Head of Corporate Development, FIG-Banker und McKinsey-Berater – ist ein Senior Financial Services Professional mit dem Fokus auf Banking, Fintech und Finance. Er berät derzeit US-amerikanische und europäische Private-Equity- bzw. Venture-Capital-Fonds sowie Immobilienunternehmen bei deren Investitions- und Wertschöpfungsplanungen. Außerdem ist er in den Aufsichtsräten deutscher Fintech- und Immobilien-Investmentgesellschaften tätig. Axel Wieandt ist seit einiger Zeit selbst Fintech-Investor und hat Lehraufträge an hochrangigen internationalen Hochschulen, wie beispielsweise seit 2005 als Honorarprofessor an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Er ist außerdem Autor von über 70 Forschungsarbeiten, Meinungsbeiträge und Interviews und als Vortragender auf Konferenzen gefragt. Sein Buch "Unfinished Business: Putting European Banks (and Europe) Back on Track" ist 2017 im V&R unipress Verlag erschienen.

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