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04.05.2021

Ethereum oder die Macht von Smart Contracts

Wie Bitcoin und Co die traditionelle Bankenwelt verändern (Teil 3/7)

Axel Wieandt- 04. Mai 2021

Tipps für Praktiker

Ether, der Coin von Ethereum, ist zwar die zweitgrößte Kryptowährung gemessen an der Marktkapitalisierung, hat aber bisher viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit als der Bitcoin erhalten. Spricht man mit Insidern, halten die meisten von ihnen Ethereum jedoch für die wichtigere der dezentralen Software-Plattformen. Ethereum ist eine universell programmierbare Blockchain, d. h. eine virtuelle Maschine, die dezentrale Anwendungen unterstützt. Diese sind auch als "Dapps" bekannt. Das Ausführen von Dapps erfordert sogenanntes „Gas“, das nur mit Ether gekauft werden kann, der digitalen Währung von Ethereum. Der jüngste Preissprung von Ether hat die Kosten für den Betrieb von Dapps erhöht, was die Nutzer der Ethereum Blockchain dazu zwingt, private Side-Chain-Lösungen für die Zwischenverarbeitung und -aufzeichnung zu entwickeln.

Eine Dapp besteht aus einer Web-Frontend-Schnittstelle, dezentralen Speicher- und Nachrichten-Protokollen und sogenannten Smart Contracts. Smart Contracts sind Software-Algorithmen, die dazu dienen, die Ausführung der Vertragsverpflichtungen der Teilnehmer an einer Transaktion auf der Blockchain zu automatisieren. Mit anderen Worten: Sobald bestimmte Ereignisse oder Bedingungen auf der Blockchain aufgezeichnet werden, wird die Ausführung bestimmter, vorher vereinbarter Aktionen ausgelöst. Auf diese Weise kann zum Beispiel ein gesamter "Order-to-Delivery-and-Payment-Zyklus" (Zyklus von der Bestellung bis zur Auslieferung und Bezahlung) vollständig automatisiert werden. Die Kombination mehrerer Smart Contracts könnte sogar eine ganze Organisation abbilden.

Im Gegensatz zu Bitcoin ist Ethereum inflationär. Bis zu 18 Millionen Ether können pro Jahr generiert werden, ohne dass es eine Obergrenze für die Gesamtsumme gibt, wobei Blöcke alle zehn bis zwanzig Sekunden "geschürft" werden und mit zwei Ether pro Block belohnt werden. Das Ethereum-Netzwerk durchläuft seit kurzem einen mehrstufigen Übergang von einem Bitcoin-ähnlichen Proof-of-Work-System, das auf einem kompetitiven Wettlauf zur Lösung eines mathematischen Problems beruht, zu einem Proof-of-Stake-System, bei dem alle Ether-Token-Inhaber am Blockchain-Validierungsprozess teilnehmen können, sofern ein Mindestbetrag von 32 Ether hinterlegt wird. Die Umstellung auf Proof-of-Stake wird die Skalierbarkeit der Ethereum-Blockchain deutlich erhöhen und ihren CO2-Fußabdruck reduzieren. Dies dürfte ihre Position als öffentliche und ohne Genehmigung frei zugängliche Unternehmens-Blockchain-Plattform stärken. Sich auf einen Softwarecode und die automatisierte Ausführung von Verträgen zu verlassen, birgt jedoch auch Risiken, wie der folgende Fall einer sogenannten Dezentralen Autonomen Organisation (DAO) zeigt.

Wichtige Lehren aus den Anfängen von Ethereum

Die Gebrüder Jentzsch, zwei frühe Ethereum-Programmierer, starteten die erste Dezentrale Autonome Organisation im Sommer 2016. Die DAO enthielt nur 663 Zeilen Code, die auf insgesamt 860 Beiträgen von 18 Mitwirkenden basierten. Sie war so konzipiert, dass sie als dezentraler, von Investoren gesteuerter Risikokapitalfonds funktionierte. Innerhalb weniger Tage nach ihrem Start hatte sie von ihren neuen Mitgliedern Ether im Wert von 150 Millionen US-Dollar eingesammelt, wofür diese 1,15 Milliarden DAO-Token erhielten. Durch die DAO-Token erhielten deren Eigentümer das Recht, Investitionen vorzuschlagen und darüber abzustimmen. Zudem konnten sie in den Genuss von Gewinnausschüttungen kommen.

Kurz nach dem Start wurde die DAO jedoch Opfer eines anonymen Hackerangriffs, der einen Fehler in der eingebauten Split-Funktion für DAO-Austritte nutzte, um Ether im Wert von damals 50 Millionen US-Dollar aus der DAO abzuschöpfen. Als der Hack entdeckt wurde, brach der Preis von Ether ein. Und obwohl die junge Ethereum-Gemeinde zuvor das Mantra "der Code ist das Gesetz" hochgehalten hatte, beschlossen die Jentzsch-Brüder unter aktiver Beteiligung von Vitalik Buterin und der Ethereum-Stiftung, eine sogenannte "Hard-Fork" zu implementieren, die im Wesentlichen den Code der Ethereum-Blockchain neu schreibt und damit die von der DAO gestohlenen Ether ungültig macht.

Für Nutzer von öffentlichen, ohne Genehmigung zugänglichen Unternehmens-Blockchain-Plattformen wie Ethereum ergeben sich wichtige Lehren aus dem Fall DAO:

  • Erstens sind Anwendungsprogramme fast nie fehlerfrei. Einfachheit und rigoroses Testen und Prüfen des Software-Codes sind der Schlüssel zur Fehlerreduktion. In der Tat hat sich die Sicherheit von Smart Contracts im Laufe der Zeit erhöht, und Ethereum gehört heute zu den am gründlichsten getesteten Unternehmens-Blockchains.
  • Zweitens kann ein Fehler in einer Anwendung der Reputation der gesamten Plattform und aller anderen Anwendungen auf dieser Plattform schaden.
  • Drittens hatte die DAO zum Zeitpunkt des Hackerangriffs 15 Prozent aller verfügbaren Ether eingesammelt, was sie so für die Ethereum-Blockchain de facto "too-big-to-fail" machte.
  • Viertens beweist die implementierte Hard-Fork-Lösung die Wirksamkeit von zentral gesteuerten Interventionen in einem scheinbar dezentralen Netzwerk, insbesondere wenn es um die Bewältigung unvorhergesehener Probleme geht.
  • Schließlich wirft der Hackerangriff im Hinblick auf Regulierung und Aufsicht die Frage auf, ob man sich auf einer Blockchain wirklich in einem rechtsfeien Raum befindet.

Unternehmens-Blockchain-Plattform mit Potenzial

Trotz dieser frühen Pannen hat sich Ethereum als die wichtigste öffentliche und frei zugängliche Unternehmens-Blockchain-Lösung etabliert. Das Netzwerk besteht derzeit aus über 8.500 Knoten, wobei ein Drittel in den Vereinigten Staaten und 20 Prozent in Deutschland angesiedelt sind, gefolgt von China, Singapur und Frankreich. Noch wichtiger ist, dass heute im Durchschnitt fast 2.300 Entwickler aktiv zur Weiterentwicklung von Ethereum beitragen, eine Steigerung von über 200 Prozent im Vergleich zu vor drei Jahren. Über 3.000 Dapps wurden in den letzten Jahren auf Ethereum implementiert, und viele große Unternehmen haben begonnen, den Einsatz in verschiedenen Branchen zu testen – sei es in der Einzelhandelslogistik (z.B. Amazon), in der Konsumgüter- und Getränkeindustrie (Anheuser-Busch Inbev), im Banken- und Finanzdienstleistungssektor (J.P. Morgan, Fidelity, ING), in der Energiewirtschaft (BP), im Gesundheitswesen und im Versicherungssektor (MetLife), bis hin zu Software-Herstellern (Microsoft).

Ethereum könnte das Rückgrat eines dezentralen Internets werden, als solches aber auch eine neue Risikoquelle darstellen. Nicht zuletzt ist Ethereum auch die Basis-Blockchain für die meisten Decentralized-Finance- Anwendungen (DeFi – ein Überbegriff für eine wachsende Zahl von experimentellen Protokollen, die darauf abzielen, Finanzintermediäre überflüssig zu machen).

Bitcoin und Ethereum stehen für bedeutenden technologischen Fortschritt

Wie Bitcoin steht Ethereum mit seiner eingebauten Anwendungsprogrammierplattform für wichtige technologische Fortschritte, die dazu beitragen könnten, kostengünstigere und sicherere Dienstleistungen und Produkte auf transparente Art und Weise anzubieten und die Grenzen zwischen Organisationen, Branchen und Märkten neu zu definieren.

- Deutsche Übersetzung des englischen Orginalbeitrags -

Tipps für Praktiker

  • Betrachten Sie Ethereum als ein innovatives, öffentliches, und frei zugängliches Instrument, das eine vollständige Automatisierung von unternehmens- und branchenübergreifenden Geschäftsprozessen ermöglicht.
  • Beginnen Sie, mit Smart Contracts und Dapps auf Ethereum zu experimentieren und treiben sie über Kooperationen die automatisierte Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen voran.
  • Behalten Sie im Blick, wie sich das Ethereum-Ökosystem insgesamt entwickelt und wie reibungslos die Umstellung auf Proof-of-Stake verläuft.

Literaturverweise

Weiterführende Literatur

Autor

Prof. Dr. Axel Wieandt

Axel Wieandt – vormals CEO/CFO einer DAX-30-Bank, Global Head of Corporate Development, FIG-Banker und McKinsey-Berater – ist ein Senior Financial Services Professional mit dem Fokus auf Banking, Fintech und Finance. Er berät derzeit US-amerikanische und europäische Private-Equity- bzw. Venture-Capital-Fonds sowie Immobilienunternehmen bei deren Investitions- und Wertschöpfungsplanungen. Außerdem ist er in den Aufsichtsräten deutscher Fintech- und Immobilien-Investmentgesellschaften tätig. Axel Wieandt ist seit einiger Zeit selbst Fintech-Investor und hat Lehraufträge an hochrangigen internationalen Hochschulen, wie beispielsweise seit 2005 als Honorarprofessor an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Er ist außerdem Autor von über 70 Forschungsarbeiten, Meinungsbeiträge und Interviews und als Vortragender auf Konferenzen gefragt. Sein Buch "Unfinished Business: Putting European Banks (and Europe) Back on Track" ist 2017 im V&R unipress Verlag erschienen.

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