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23.01.2023

Krisenmanagement in der Zivilgesellschaft – und was Unternehmen daraus lernen können

To-Do Listen, Check-Listen oder Einkaufslisten: Listen kommen uns im Alltag selbstverständlich vor, in Krisenzeiten können sie aber als wirkungsvolle…

Lukas Löhlein / David Crvelin - 23. Januar 2023

Tipps für Praktiker

Krisen und Katastrophen konfrontieren Hilfsorganisationen in der Regel mit dynamischen, unsicheren Situationen. Um Krisensituationen erfolgreich zu managen, können Instrumente des Controllings hilfreich sein, indem sie die Komplexität der Aufgaben greif- und steuerbar machen. Dass das Controlling nicht nur Daten erfassen, sondern auch in messbare Einheiten einteilen sowie den zugehörigen Prozess standardisieren und Organisationsprozesse transparent gestalten kann, ist längst durch zahlreiche Studien belegt. Während sich die Forschung bislang auf das Krisenmanagement von etablierten Organisationen konzentriert hat, untersucht ein aktuelles Forschungsprojekt die Anwendung von Steuerungsinstrumenten in ehrenamtlichen Organisationsformen. Diese haben im Rahmen der „Flüchtlingskrise“ 2015 die entstehenden Herausforderungen auf lokaler Ebene koordiniert – zunächst einzeln, später vernetzt.

Listen als Koordinationsinstrument

Krisenmanagement durch ehrenamtliche Organisationen zeichnet sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher freiwilliger Helfender, dynamische Strukturen und wechselnde Aufgaben aus. Die Studie „Commensuration by form: Lists and accounting in collective action networks“ zeigt, wie vermeintlich unscheinbare, schriftlich erstellte Listen maßgeblich dazu beigetraten haben, diese Vielfalt „organisierbar“ zu machen: Während der „Flüchtlingskrise“ ermöglichten Listen es beispielswiese, individuelle Fähigkeiten, Motivation, zeitliche Verfügbarkeit und Ressourcen der freiwillig Helfenden zu erfassen und halfen so, die beteiligten Ehrenamtlichen in Einheiten einzuteilen und die Ressourcen organisierbar zu machen. Auf Grundlage die­ser ersten Kategorisierung und Standardisierung kristallisierten sich erste organisationale Strukturen heraus, so dass Geflüchteten Hilfsangebote gemacht werden konnten. Prozesse des Zählens, Auflistens und Klassifizierens waren somit der Beginn der Krisenko­ordination.

Von der Auflistung zur Handlung

Die noch vor der Ankunft der Geflüchteten entwickelten Strukturen wurden bei deren Eintreffen auf eine harte Probe gestellt: Oftmals passten die mit viel Aufwand, Leidenschaft und Detailverliebtheit entwickelten Angebote nicht zu den tatsächlichen Bedürfnissen der Geflüchteten. Um diese Diskrepanz aufzulösen, entwickelten sich aus den ersten Listen in kürzester Zeit rudimentäre Formen von Steuerungsinstrumenten: So ermöglichte beispielsweise der Abgleich von Anwesenheitslisten in unterschiedlichen Sprachgruppen, anhand der jeweiligen Teilnehmeranzahl, Schlussfolgerungen über die (wahrgenommene) Qualität der unterschiedlichen „Deutschlehrer“. Diese und andere selbstentwickelte Steuerungsinstrumente trugen maßgeblich dazu bei, dass sich aus anfänglich fluiden ehrenamtlichen Gruppen gefestigte und komplexere Organisationen entwickelten, die den Grundgedanken des „Helfens“ in klare Strukturen und Verantwortlichkeiten übertrugen.

Die Eigendynamik von Steuerungsinstrumenten

Obwohl das Controlling auf diese Weise maßgeblich zum Management der Krisensituation beigetragen hat, hatte es teilweise auch nicht-intendierte Auswirkungen. So trugen Steuerungsinstrumente teilweise zu einer Verknappung des Leistungsangebots für die Bedürftigen bei, da sie die Organisationen „drängten“, sich auf das Messbare zu fokussieren: Zum einen wurden im Laufe der Zeit nur Aktivitäten und Angebote beibehalten, die durch das vorgefertigte Kontrollschema erfasst werden konnten – also über einen längeren Zeitraum in standardisierter Form messbar waren. Zum anderen wurden nicht oder schwer messbare Aktivitäten und Effekte, wie beispielsweise das persönliche Betreuungsverhältnis zwischen Geflüchteten und Freiwilligen, kaum berücksichtigt. Damit zeigt die Studie auch, dass wenn Aktivitätsmuster einmal unberücksichtigt sind, sie dauerhaft von der Steuerung und Koordinierung ausgeschlossen bleiben.

Tipps für Praktiker

  • Erkennen Sie als Unternehmer:in die Vorteile von Steuerungsinstrumenten und nutzen Sie diese! Steuerungsinstrumente ermöglichen komplexe Ereignisse wie Krisen als übersichtliche Einheiten zu standardisieren und zu klassifizieren und damit organisierbar zu machen.
  • Seien Sie sich jedoch auch der Nachteile von Steuerungsinstrumenten bewusst! Sie entwickeln manchmal eine Eigendynamik, die zu Fehlsteuerungen und damit zu Frustration und Resignation unter den Mitarbeitenden führen kann.
  • Finden Sie als Unternehmer:in eine Balance zwischen notwendiger Standardisierung und kreativer Flexibilität. Nur so können Sie auf Dauer erfolgreich sein.

Literaturverweis und Methodik

Die Studie hat anhand von qualitativen Interviews und Beobachtungen die Rolle von elementaren Steuerungsinstrumenten bei der Etablierung und Koordination zivilgesellschaftlicher Strukturen während der „Flüchtlingskrise“ in Deutschland von 2015 bis 2018 untersucht.

Co-Autoren der Studie

Professor Lukas Löhlein

Lukas Löhlein is a Professor of Controlling at WHU – Otto Beisheim School of Management. In his research, Löhlein assumes an interdisciplinary, sociological perspective on matters relevant to corporate management and control.

Junior-Prof. Dr. David Crvelin

David Crvelin ist Juniorprofessor für Accounting and Management Control an der École des Hautes Etudes Commerciales de Paris (HEC) in Paris.

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