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14.04.2021

Rezessionsvorhersagen an der Nullzinsgrenze

Wie können wir Rezessionen für die Eurozone treffend vorhersagen?

Ralf Fendel - 14. April 2021

Tipps für Praktiker

 

Vor der Covid-19-Pandemie, die eine nicht vorhersehbare Rezession auslöste, erlebte die Eurozone einen eher klassischen Wirtschaftszyklus, der durch den Aufbau von Ungleichgewichten und Überhitzung vor der globalen Finanzkrise gekennzeichnet war, gefolgt von einer strukturell schwachen Wirtschaft, die in einer Liquiditätsfalle verweilte. Zudem haben Beobachter diverse geldpolitische Regime erlebt, die von orthodoxer Geldpolitik bis hin zur unkonventionellen Geldpolitik der EZB reichten, bei der der Hauptrefinanzierungssatz an der sogenannten Nullzinsgrenze festgeschrieben wurde. Hinzu kommt, dass die der Eurozone aufgrund ihres erst kurzen Bestehens im Vergleich zu anderen Währungsräumen einzigartig ist. Diese Besonderheiten der Eurozone erfordern, dass Frühindikatoren für Rezessionen robust genug sein müssen, um den Zustand von Konjunkturzyklen unabhängig von der Zentralbankpolitik zu erkennen.

Die Zinsstrukturkurve als Instrument zur Rezessionsvorhersage

Traditionell gehört die Zinsstrukturkurve zu den zuverlässigsten Indikatoren für die Vorhersage von Rezessionen. Nach der Erwartungstheorie des Zinses wird eine traditionell nach oben geneigte Zinsstrukturkurve flacher und kann sogar ihre Neigung vor Beginn einer Rezession umkehren. Dieses Phänomen wird in der Regel erwartet, weil die Zentralbank die kurzfristigen Zinssätze anhebt, um den Inflationsdruck einer (noch) boomenden Wirtschaft zu zähmen, während gleichzeitig die langfristigen Zinssätze in Erwartungen einer bevorstehenden Verlangsamung oder Rezession und einer daher akkommodierenden Geldpolitik in der Zukunft sinken. In der empirischen Literatur wurde das so beschriebene theoretische Phänomen überzeugend unterstützt und der Steigung der Zinsstrukturkurve wurde eine überragende Vorhersagekraft für den zukünftigen Zustand des Konjunkturzyklus zugeschrieben.

An der Nullzinsgrenze wird die Steigung der Zinsstrukturkurve als Vorhersageinstrument für den zukünftigen Zustand des Konjunkturzyklus jedoch durch mindestens zwei Entwicklungen beeinträchtigt. Erstens wird dies durch Wirkung unkonventioneller Geldpolitik wie etwa der Forward Guidance und der Quantitativen Lockerung auf die Zinsstrukturkurve bedingt. Konkret haben Finanzmarkterwartungen aufgrund der unkonventionellen Geldpolitik die Zinssätze entlang der gesamten Laufzeitstruktur strukturell gesenkt. Während die konventionelle Kalibrierung von Rezessionsmodellen anhand des Term Spreads erhöhte Wahrscheinlichkeiten für einen wirtschaftlichen Abschwung signalisieren würde, ist die Ursache für die Abflachung jedoch die neuerdings implementierte unkonventionelle Geldpolitik. Zweitens verändert die nunmehr erhöhte Relevanz der so genannten Marktsegmentierungshypothese an der Nullzinsgrenze die Dynamik der Zinskurve. An der Nullzinsgrenze haben die Anleihekäufe der EZB einen asymmetrisch stärkeren Effekt auf das lange Ende der Zinskurve als auf das kurze Ende.

Die abnehmende Vorhersagekraft des traditionellen Term Spreads

In einer aktuellen Publikation betrachten ich und meine Co-Autoren 43 verschiedene Variablen, um die Rezessionswahrscheinlichkeiten für die Eurozone zu analysieren. Es wird ein Benchmark-Modell auf Basis univariater (d. h. auf jeweils nur einer Variablen basierenden) Probit-Regressionen geschätzt und es werden zudem Erweiterungen entwickelt, um zuverlässige Vorhersagevariablen für Rezessionen in der Eurozone zu finden. Abbildung 1 zeigt die Vorhersagekraft des traditionellen Term Spread (schwarze Linie: Differenz zwischen dem 10-Jahres-Zins und dem 3-Monats-Zins) durch Abtragen der signalisierten Rezessionswahrscheinlichkeit, die durch den jeweiligen Indikator angezeigt wird, an der senkrechten Achse. Die beiden Rezessionen sind durch die schattierten Bereiche gekennzeichnet. Während die Rezession von 2008-2009 noch als Paradebeispiel für die Fähigkeit des Term Spreads dient, einen wirtschaftlichen Abschwung mit ausreichendem Vorlauf zu prognostizieren, erfasst der Indikator die zweite Rezession ab 2011 nicht mehr. Im Gegenteil, sein Signal bewegt sich nach der europäischen Staatsschuldenkrise nach oben und bleibt dort für den Zeitraum 2015-2017 im Zuge einer Verflachung der Renditekurve, die jedoch durch das erweiterte Ankaufprogramm der EZB ab 2015 ausgelöst wurde.

Eine Umformulierung des Zins-Laufzeiten-Spreads

In einem Versuch, den Informationsgehalt der Zinsstrukturkurve wiederherzustellen, schlagen wir daher eine modifizierte Version des Term Spreads vor, die den sogenannten „Schattenzinssatz“ als Ersatz für den beobachteten kurzfristigen Zins einbezieht. Dieser „Schattenzinssatz“ ist ein künstlicher kurzfristiger Zinssatz, der darauf abzielt, die unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen einzubeziehen. Er wird als lineare Funktion von drei latenten Variablen, den sogenannten Faktoren, geschätzt, die einem autoregressiven Prozess erster Ordnung folgen. Da die quantitative Lockerung an der ZLB als Ersatz für weitere Zinssenkungen wahrgenommen werden kann, besteht dieser modifizierte Spread-Indikator aus einem variablen Vorderteil, der vom 3m-Euribor zum Schattenzinssatz wechselt, sobald der Leitzins der EZB die Nullzinsgrenze erreicht. Der modifizierte Term Spread ist als blaue Linie in Abbildung 1 dargestellt. In der Tat führt die unkonventionelle Geldpolitik der EZB zu einer (Schatten-)Versteilerung der Zinsstrukturkurve, da nun das kurze Ende der Zinsstrukturkurve tief in den negativen Bereich abfällt. Daher sinkt die durchschnittliche Rezessionswahrscheinlichkeit für den Zeitraum zwischen Januar 2015 und Dezember 2017 auf nur 1 Prozent, verglichen mit etwa 40 Prozent, wie es der traditionelle Term Spread anzeigt. Der modifizierte Term Spread zeigt zudem eine höhere Rezessionswahrscheinlichkeit in den Monaten vor den beiden Rezessionen.

Alternativen zum Term Spread

In unserer Untersuchung stellen wir auch alternative Indikatoren zum Term Spread vor. Der Indikator, der in unserer Analyse am besten abschneidet, ist die Wachstumsrate der engen Geldmenge (12m Veränderung der realen M1). Im Vorfeld beider Rezessionen überschreitet dieser Indikator etwa 12 Monate vor Beginn des jeweiligen Konjunkturabschwungs die Wahrscheinlichkeitsschwelle von 50 Prozent. Eine Kohorte weiterer besser abschneidender Variablen setzt sich aus Indikatoren von Stimmungsindizes, dem sogenannten Einkaufsmanagerindex (PMI), Refinanzierungsbedingungen und Messgrößen der Wettbewerbsfähigkeit wie etwa die Terms of Trade und der Wechselkurs zusammen. Alle diese Indikatoren waren recht zuverlässig in der Lage, die beiden Rezession zu signalisieren.

In unserer Forschung stellen wir zudem Erweiterungen des univariaten Modells vor und zeigen, dass Kombinationen aus mehreren Indikatoren verwendet werden können, um einen Indikator mit besserer Vorhersagekraft zu bilden. Dies geschieht durch Extraktion der ersten Hauptkomponente für Kategorien, die mehrere spezifische Übertragungskanäle repräsentieren. Die Idee hinter diesem Ansatz ist nicht unbedingt, die Ergebnisse des Benchmark-Modells zu übertreffen, sondern vielmehr eine Spezifikation zu finden, die idiosynkratische Schwachstellen von auf einzelnen Variablen basierenden Indikatoren beseitigt. Eine weitere Modifikation fügt zudem den relativen Wert einer jeweiligen Indikatorvariablen gegenüber ihrem langfristigen Trend hinzu, um Dynamiken zu identifizieren, die J. M. Keynes als "Animal Spirits" bezeichnete. Die nachfolgende Abbildung 6 zeigt zum Beispiel, dass die Vorhersagekraft des PMI aus Abbildung 3 durch Hinzufügen der Abweichung aus seinem Trend verbessert werden kann. Insbesondere die erste Rezession in der Eurozone hätte früher und mit höherer Genauigkeit vorhergesagt werden können.

Tipps für Praktiker

  • Die Abflachung der Zinsstrukturkurve, die traditionell als Indikator für Konjunkturabschwünge diente, hat an der Nullzinsgrenze und in Zeiten unkonventioneller Geldpolitik einen Teil ihrer Vorhersagekraft verloren.
  • Das Problem der Abwärtsstarrheit der kurzfristigen Zinssätze an der Nullzinsgrenze kann durch die Modifikation des konventionellen Term-Spread-Indikators angegangen werden.
  • Zusätzliche Indikatoren wie enge Geldmenge, Stimmungsindizes, Refinanzierungsbedingungen und Maße der Wettbewerbsfähigkeit können als nützliche alternative Rezessionsindikatoren angesehen werden.
  • Darüber hinaus ist die Herunterbrechung der Dimensionalität für auf Einzelvariablen basierenden Indikatoren ein lohnender Ansatz, um systemische Signale des Konjunkturzyklus zu erfassen.
  • Die Einbeziehung von Trendabweichungen in Rezessionsmodelle erhöht die Vorlaufzeit eines Indikators vor einer Konjunkturabschwächung.

Originalpublikation

Originalpublikation

Weiterführende Literatur

  • Chauvet, M./Potter, S. (2005): Forecasting recessions using the yield curve, in: Journal of Forecasting 24(2), S. 77-103.
  • Estrella, A./Hardouvelis, G. A. (1991): The term structure as a predictor of real economic activity, in: The Journal of Finance 46(2), S. 555-576.
  • Rudebusch, G. D./Williams, J. C. (2009): Forecasting recessions: The puzzle of the enduring power of the yield curve, in: Journal of Business & Economic Statistics 27(4), S. 492-503.
  • Wu, J. C./Xia, F.D. (2016): Measuring the macroeconomic Impact of monetary policy at the zero lower bound, in: Journal of Money, Credit, and Banking, 48(2-3), S. 253-291.

Autor

Prof. Dr. Ralf Fendel

Prof. Dr. Ralf Fendel ist Experte für Fragen der Geldpolitik und der Geldtheorie an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Seine Forschungen sind überwiegend empirisch und beschäftigen sich mit den Auswirkungen der Geldpolitik auf Finanzmärkte bzw. die Volkswirtschaft im Allgemeinen. Darüber hinaus beschäftigt er sich in seinen Forschungsarbeiten mit Fragen der Funktionsweise der Finanzmärkte sowie mit Themen der Europäischen Integration.

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