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17.10.2022

Sind Erwünschtheitsskalen überhaupt wünschenswert?

Warum es manchmal unmöglich ist, bei Bewerbungsverfahren die richtige Antwort zu geben

Lukas Lanz / Isabel Thielmann / Fabiola Gerpott - 17. Oktober 2022

Tipps für Praktiker

 

In den 50er Jahren entwickelten Wissenschaftler und Praktiker sogenannte Skalen der sozialen Erwünschtheit, um Verzerrungen in Fragebögen, beispielsweise bei Auswahlverfahren für Jobs, abzuschwächen. Diese Skalen enthalten bestimmte Aussagen, die ein Ideal widerspiegeln, das gesellschaftlich höchst erwünscht ist – und gleichzeitig statistisch gesehen recht unwahrscheinlich zu erreichen ist. So müssen Menschen in Bewerbungsprozessen beispielsweise immer wieder mit Abstufungen angeben, inwieweit sie Aussagen wie „Ich lüge niemals“ zustimmen. Diese Skalen der sozialen Erwünschtheit waren ursprünglich dazu gedacht, das Ausmaß der übertrieben positiven Selbstdarstellung zu messen. Weil es äußerst unwahrscheinlich ist, dass jemand solch extremen Aussagen wahrheitsgemäß zustimmen kann, betrachten Personalverantwortliche diese Antworten als Lügen. Infolgedessen werden auch die anderen Antworten des Bewerbers, z. B. zu seiner Zuverlässigkeit, Motivation oder Pünktlichkeit, in diesem negativen Licht betrachtet. Tatsächlich beruhen die Skalen der sozialen Erwünschtheit auf der Vorstellung, dass man den Antworten eines Bewerbers nicht gänzlich trauen kann, weshalb sie auch als „Lügenskala“ bezeichnet werden.

Mit diesen Skalen gibt es zwei wesentliche Probleme: Das erste ist praktischer Natur. Stellen Sie sich vor, ein motivierter Bewerber hat sein Anschreiben, seinen Lebenslauf und die übrigen Bewerbungsunterlagen an ein Unternehmen geschickt. Die Personalabteilung des Unternehmens schickt ihm daraufhin einen Fragebogen zu, der Fragen zu sozialer Erwünschtheit beinhaltet. Darin soll der Bewerber seinen Grad an Zustimmung zu Aussagen wie "Ich vertusche niemals meine Fehler" oder "Ich zögere nie, jemandem in einer Notsituation zu helfen" angeben. Zwei Dinge können in Abhängigkeit von den Antworten auf beide Aussagen geschehen:

  • Option A: Der Bewerber signalisiert Zustimmung.
  • Option B: Der Bewerber signalisiert Ablehnung.

Option A wäre für den Personalverantwortlichen ein Warnsignal: Es ist unwahrscheinlich, dass die Zustimmung zu einer solchen Aussage wahr ist, weshalb der Bewerber für ihn zum Lügner wird – nicht nur dabei, sondern auch bei anderen Antworten. Option B hingegen charakterisiert den Bewerber als jemanden, dem man nicht trauen und auf den man sich nicht verlassen kann – diesen Mitarbeiter würden Personalverantwortliche für ihr Unternehmen nicht rekrutieren wollen. Im Klartext: Keine der beiden möglichen Antworten würde zu einem positiven Ergebnis für den Bewerber führen. Dies bringt den Bewerber in eine unangenehme Lage, in der er keine "richtige Antwort" geben kann.

Zweitens gibt es wachsende Bedenken, was die Validität der Skalen sozialer Erwünschtheit angeht. Neuere Forschung spricht sich gegen die „Lügenskala“-Interpretation aus. Stattdessen geht sie davon aus, dass Skalen der sozialen Erwünschtheit tatsächliche Substanz, also tugendhaftes und ehrliches Verhalten messen. Nach der Substanz-Interpretation würde die Zustimmung zu den obigen Aussagen als wahrheitsgemäß ausgelegt werden. Diese Interpretation legt demnach nahe, dass hohe soziale Erwünschtheitswerte Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit ausdrücken.  Je nachdem ob Personalverantwortliche die Antworten also nach der Lügenskala- oder Substanz-Interpretation auslegen, würde die gleiche Antwort von Bewerber:innen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Um mehr Klarheit in die „Lügenskala vs. Substanz“-Debatte zu bringen, haben wir eine Metaanalyse von 41 veröffentlichten und unveröffentlichten Studien, die sich mit dem Thema befasst haben, durchgeführt. Eine Metaanalyse fasst die Ergebnisse mehrerer Studien zusammen und analysiert sie, wodurch die Erkenntnisse für diesen Bereich gebündelt werden. Dadurch wird es Forschenden ermöglicht, zuverlässige Schlüsse auf Grundlage einer enorm großen Evidenzbasis zu ziehen. Unsere Analyse zeigt, dass Skalen der sozialen Erwünschtheit nicht in der Lage sind, ausschließlich Lügen oder Substanz zu messen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass sie eine Mischung aus beidem abbilden. Daher können die Ergebnisse der Skalen sozialer Erwünschtheit nicht eindeutig interpretiert werden, was sie für Unternehmen bei der Suche nach Bewerbern unbrauchbar macht. Sie sollten daher in der Praxis nicht länger verwendet werden.

Tipps für Praktiker

  • Verzichten Sie als Personalverantwortliche:r bei Auswahlprozessen von Bewerber:innen auf den Einsatz von Skalen der sozialen Erwünschtheit. Werden Skalen der sozialen Erwünschtheit nach der Lügenskale-Interpretation verwendet, können Bewerber:innen keine zufriedenstellende Antwort geben. Entweder stimmen sie den sozial erwünschenswerten Aussagen zu und ihre Antworten werden als Lügen angesehen oder sie stimmen nicht zu und stellen sich selbst in schlechtem Licht dar.
  • Denken Sie daran, dass die Skalen sozialer Erwünschtheit nicht ausschließlich den Lügen oder die Substanz messen. Als Personalverantwortliche:r können Sie daher aus den gesammelten Daten keine verlässlichen Schlüsse ziehen.
  • Reflektieren Sie Ihren Auswahlprozess für Bewerber:innen und wie einzelne Maßnahmen auf die Kandidat:innen wirken könnten. Sollten sich Bewerber:innen während des Auswahlverfahrens unwohl fühlen, könnten sie Ihr Unternehmen insgesamt negativ wahrnehmen.
  • Verwenden Sie einen ganzheitlichen Ansatz, statt sich auf jahrzehntealte Prozesse zu verlassen. Ein sich ständig im Wandel befindlicher Arbeitsplatz zeichnet sich durch Digitalisierung, die Möglichkeit zur Arbeit im Homeoffice und flexible Gestaltung der Arbeitszeit aus. Unternehmen müssen daher auch ihre Einstellungsprozesse weiterentwickeln, um die besten Talente für sich gewinnen zu können. Sie sollten auch andere Aspekte wie beispielsweise die  Arbeits- und Unternehmenskultur berücksichtigen, um Talente anzuziehen. Das Start-up Empion, welches von zwei WHU-Alumnae gegründet wurde, bietet Bewerber:innen und Unternehmen die Möglichkeit, schon vor dem Bewerbungsprozess zu prüfen, ob die jeweiligen Vorstellungen von der Unternehmenskultur zusammenpassen.   

Literaturverweis

Co-Autoren der Studie

Lukas Lanz

Lukas Lanz ist Doktorand am Lehrstuhl für Leadership der WHU – Otto Beisheim School of Management. Sein Forschungsinteresse gilt vorwiegend der Untersuchung und Entwicklung von Praktiken, mit denen Menschen in einer modernen Arbeitsumgebung konfrontiert sind. Neben seiner Forschung zu Skalen sozialer Erwünschtheit beschäftigt er sich auch mit der Interaktion zwischen Menschen und Künstlicher Intelligenz und insbesondere der Personalführung durch KI.

Dr. Isabel Thielmann

Isabel Thielmann ist Leiterin der Unabhängigen Forschungsgruppe Personality, Identity, and Crime am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Persönlichkeit und individuelle Unterschiede, (un)ethische Entscheidungsfindung und prosoziales Verhalten.

Prof. Dr. Fabiola H. Gerpott

Fabiola H. Gerpott ist Expertin für Leadership, Diversitätsmanagement und organisationales Verhalten an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Sie engagiert sich dafür, dass Vielfalt von Führungskräften und Mitarbeitenden in Organisationen mehr Wertschätzung erfährt. Ihr Forschungsinteresse gilt der Führungskräftekommunikation, Diversität und wie Unternehmen "New-Work"-Umgebungen effektiv gestalten können.

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