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22.11.2021

Weniger Luftfahrtemissionen, Verspätungen und Umleitungen

Warum Fliegen durch internationale Zusammenarbeit sauberer und effizienter werden kann

Jan-Rasmus Künnen / Arne K. Strauss - 22. November 2021

Tipps für Praktiker

Die Aufgabe von Fluglotsen besteht darin, die sichere Passage von Flugzeugen durch den Luftraum zu gewährleisten. Diese Serviceleistung ist mit hohen Kosten verbunden: Allein in Europa beliefen sich die Kosten für das Flugverkehrsmanagement (Air Traffic Management oder ATM) im Jahr 2017 auf acht Milliarden Euro. Im gleichen Jahr gab es jedoch in sieben Prozent der Fälle zu wenige verfügbare Fluglotsen, um die angeforderten ATM-Dienste zu bewältigen. Dies führte 2017 insgesamt zu Verspätungskosten von etwa 550 Millionen Euro. Ein Grund für das beobachtbare Ungleichgewicht von Kapazität und Nachfrage ist, dass der Flugverkehr in Europa immer noch weitgehend von jedem Land selbst geregelt wird. Denn die Fluglotsen jedes Landes sind nur berechtigt, Flüge innerhalb des Zuständigkeitsbereichs des eigenen Landes zu koordinieren – manchmal sogar nur innerhalb einer Region des Landes. Allein Deutschland ist in vier sogenannte Luftraumkontrollzentren (Airspace Control Centre oder ACC) unterteilt, und jeder Fluglotse in Deutschland ist nur für einen der vier Lufträume verantwortlich.

In den vergangenen Jahren haben Forscher und Praktiker die Idee einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Fluglotsen in Europa angeregt. Eine solche Zusammenarbeit würde es ermöglichen, die Lotsen-Kapazitäten flexibler auf die Luftraumkontrollzentren mit hoher Nachfrage zu verteilen, anstatt Flüge in die Bereiche von Luftraumkontrollzentren mit hoher Kapazität umzuleiten. Mit dieser Maßnahme könnte die Zahl der erforderlichen Umleitungen deutlich verringert werden. Im Idealfall würde das gesamte europäische Flugnetz als einheitlicher europäischer Luftraum verwaltet werden, nämlich im Rahmen der Single-European-Sky-Initiative (SES). Eine aktuelle Studie untersucht, welche Vorteile eine solche Zusammenarbeit bringen und wie ein solches grenzüberschreitendes Kooperationsprogramm aussehen könnte. Zu diesem Zweck wurde ein Algorithmus entwickelt, der dynamisch über die Anzahl der für jedes ACC erforderlichen Fluglotsen entscheidet, und zwar auf Grundlage verschiedener Szenarien für den bevorstehenden Flugverkehr und der erwarteten Wetterbedingungen. Das Modell wurde in einer groß angelegten Fallstudie an 2.800 realen Flügen in acht europäischen Ländern getestet.

Die Ergebnisse zeigen, dass durch grenzüberschreitende Kooperation die Kosten für Verspätungen und Umleitungen in Europa um 40 bis 50 Prozent gesenkt werden könnten, während die Kosten zum Aufbau zusätzlicher Kapazitäten sich um weniger als ein Prozent erhöhen würden. Es mag überraschen, dass eine regionale grenzüberschreitende Zusammenarbeit, bei der die Kapazitäten von nur zwei bis drei benachbarten ACCs gemeinschaftlich genutzt werden, ausreicht, um diese Vorteile zu erzielen. Eine gemeinsame Nutzung aller Kapazitäten im europäischen Luftraum dagegen bringt keinen zusätzlichen Nutzen, da die höheren Kosten eines solchen Ansatzes die Vorteile überwiegen würden. Zusätzliche Nebeneffekte der grenzüberschreitenden Nutzung von Kapazitäten wären eine stabilere Abwicklung des Flugverkehrs sowie geringere Emissionen, da weniger Flüge umgeleitet werden müssten. Die positiven Ergebnisse liefern ein weiteres Argument für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit im europäischen Flugverkehrsmanagement, und könnten die politische Diskussion weiter befeuern.

Tipps für Praktiker

  • Die Auflösung des Ungleichgewichts zwischen Nachfrage und Kapazität ist theoretisch recht einfach: Verbessern Sie entweder die Kapazitätsplanungen im Hinblick auf die antizipierte Nachfrage, oder bringen Sie in Ihrer Steuerung die Nachfrage besser in Einklang mit den bestehenden Kapazitäten.
  • Da Kapazitätsentscheidungen in der Regel langfristig ausgerichtet sind, ist es schwierig (oder sehr kostspielig), sie kurzfristig anzupassen. Ziehen Sie daher eine Flexibilisierung der Kapazitäten in Betracht.
  • Für die Flexibilisierung gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten. Nutzen Sie beispielsweise flexible Verträge (entweder für physische Güter oder Dienstleistungen), die Anmietung weiterer Kapazitäten (z. B. Cloud-Dienste für digitale Produkte) oder die gemeinsame Nutzung von Kapazitäten mit Partnern (wie im Fall der Luftverkehrssteuerung).
  • Wenn Sie sich für die gemeinsame Nutzung von Kapazitäten entscheiden, stellen Sie sicher, dass sich daraus keine unbeabsichtigten Folgen ergeben. Achten Sie zum Beispiel darauf, dass es nicht zu einer dauerhaften Verlagerung der Kapazitätsbereitstellung von einem Partner zum anderen kommen.

Literaturverweis und Methodik

Die Studie ist Bestandteil des übergeordneten Forschungsprojekts CADENZA, welches von der Europäischen Kommission finanziert wird (Horizon 2020). An dem Projekt wirken zahlreiche Partneruniversitäten, Eurocontrol und Berater aus der Wirtschaft mit.

  • Künnen, J.-R./Strauss, A./Starita, S./Fichert, F./Ivanov, N./Jovanovic, J. (2021): Cross-border capacity planning in air traffic management under uncertainty, noch nicht veröffentlicht.

Co-Autoren der Studie

Jan-Rasmus Künnen

Jan-Rasmus Künnen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Demand Management & Sustainable Transport an der WHU. Sein Forschungsinteresse gilt der Anwendung quantitativer Methoden (Optimierung, Spieltheorie, Modellierung) auf Transport- und Logistikprobleme. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit der Entwicklung mathematischer Modelle zum Ausgleich von Nachfrage und Kapazität im europäischen Luftverkehrsmanagement. Zuvor arbeitete er als Berater bei McKinsey & Company, wo er sich auf die Umgestaltung von Lieferketten und Betriebsabläufen spezialisierte.

Prof. Dr. Arne K. Strauss

Prof. Dr. Arne K. Strauss ist Inhaber des Lehrstuhls für Demand Management & Sustainable Transport an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Er ist spezialisiert auf die Anwendung mathematischer Modelle auf betriebswirtschaftliche Fragestellungen, insbesondere für die Bereiche Nachfragemanagement und Verkehr. Zuvor war er außerordentlicher Professor für Operational Research in der Operations Group der Warwick Business School und Turing Fellow am Alan-Turing-Institute in London. Für seine Forschung wurde er mehrfach ausgezeichnet und ist derzeit Mitglied des Strategic Advisory Teams (Mathematische Wissenschaften) des British Engineering and Physical Sciences Research Council.

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