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11.04.2022

Keine Frage mangelnden Pflichtgefühls

Wie das Arbeiten bei Krankheit Unternehmen schadet und was Manager und Managerinnen dagegen tun können

Prisca Brosi, Wladislaw Rivkin, Stefan Diestel, Dana Unger, Fabiola Gerpott- 11. April 2022

Tipps für Praktiker

 

Seit Beginn der Pandemie ist die Hemmschwelle, krank zur Arbeit zu fahren, deutlich höher – das fand eine neue Studie der Forscherinnen Prof. Brosi und Prof. Gerpott heraus. Viele Angestellte geben in Befragungen an, im Fall einer Erkrankung lieber zu Hause zu bleiben, um ihre Kollegen und Kolleginnen nicht anzustecken. Doch gleichzeitig sinkt die Hemmschwelle, trotz Krankheit zu Hause zu arbeiten – ein Phänomen, das die Forscherinnen „Workahomeism“ nennen. Das Homeoffice begünstigt das Arbeiten bei Krankheit: Man muss es nicht bis ins Büro, sondern nur bis an den eigenen Schreibtisch schaffen. Wenn man bei der Arbeit hustet, stört das niemanden, und man kann sich jederzeit einen Tee machen. Das Private und das Berufliche sind im Homeoffice nicht mehr eindeutig voneinander getrennt, und es fällt schwerer, diese Grenze zu ziehen und dem Körper eine Erholungsphase zu gönnen.

Angestellte wollen Schuldgefühlen entgehen

Warum arbeiten viele Angestellte auch mit eindeutigen Krankheitssymptomen noch weiter? Die Antwort ist: Die meisten befürchten Schuldgefühle gegenüber den Kolleginnen und Kollegen, wenn sie sich krankmelden. Es erscheint ihnen als guter Kompromiss, sich im Homeoffice ein bisschen an den Computer zu setzen. Auch wenn es anstrengend ist und die dringend benötigte Erholung dadurch länger dauert – Arbeitnehmende erhoffen sich, dass wenigstens die Schuldgefühle ausbleiben. Diese Ansicht vertreten viele genauso bei leichten Beschwerden wie bei schwerwiegenderen Symptomen. Die Realität sieht leider anders aus: Die Forschung zeigt, dass sich Angestellte auch dann schuldig gegenüber dem Team fühlen, wenn sie krank arbeiten. Zusätzlich müssen sie sich mit Schuldgefühlen gegenüber sich selbst auseinandersetzen, weil sie wissen, dass sie ihre Gesundheit vernachlässigt und eigene Bedürfnisse übergangen haben.

Was gut gemeint ist, ist am Ende für keine der beteiligten Parteien hilfreich. Arbeitnehmende treiben Raubbau an ihrer Gesundheit. Unternehmen kommen in Schwierigkeiten, weil die Effektivität ihrer Mitarbeitenden abnimmt, und damit letztendlich auch die Effektivität des Unternehmens. Krank zu arbeiten, kann sogar langfristig negative Folgen haben: Wer oft trotz Krankheit arbeitet und dem Körper keine Zeit zur Erholung gibt, riskiert ernsthafte gesundheitliche Probleme, die im späteren Berufsleben zu einer erhöhten Anzahl von Krankheitstagen führen können.

Bin ich wirklich krank genug, um mich krankzumelden?

Gerade vor dem Hintergrund, dass die aktuelle Homeoffice-Situation das Arbeiten bei Krankheit begünstigt, ist es wichtig, sich anzusehen, was in einer Person vorgeht, die ein solches Verhalten zeigt. Diese Person stellt sich immer wieder zwei Fragen: Wie schlimm sind meine Beschwerden? Und wie gut komme ich mit der Arbeit voran? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, bewertet sie die Situation und entscheidet sich für oder gegen das Arbeiten trotz Krankheitssymptomen. Allgemein gilt: An Tagen, an denen Angestellte das Gefühl haben, gut mit der Arbeit voranzukommen, melden sie sich bei Beschwerden eher krank. Haben sie aber das Gefühl, mit der Arbeit nicht hinterherzukommen, ziehen sie es vor, sich trotz Beschwerden durch den Arbeitstag zu quälen. Dann erscheint es ihnen sinnvoll und notwendig, dieses Opfer zu bringen.

Mit Beschwerden arbeiten hat auch am nächsten Tag negative Konsequenzen

Jeder hat die Erfahrung schon einmal gemacht: Ist man durch gesundheitliche Beschwerden bei der Arbeit beeinträchtigt, kann man sich weniger gut konzentrieren, braucht länger für die Aufgaben und macht eher Fehler. Weniger offensichtlich, aber genauso relevant ist, dass sich die negativen Auswirkungen von Präsentismus auch am nächsten Tag noch manifestieren: In einer neuen Untersuchung von Dr. Rivkin, Prof. Dr. Diestel, Prof. Dr. Gerpott, und Dr. Unger fand die Forschergruppe, dass Angestellte sich auch am nächsten Tag schlechter in ihre Arbeit vertiefen konnten und die Leistungsfähigkeit litt. Das liegt daran, dass es besondere Selbstkontrolle erfordert, krank zu arbeiten. Die betroffene Person muss sich anstrengen, um ihre Beschwerden und die damit einhergehenden Gefühle und Gedanken auszublenden. Die Willenskraft, die sie dafür benötigt, fehlt ihr am nächsten Tag, denn sie hat diese Ressource zu stark in Anspruch genommen.

Klar wird dadurch: Es ist sinnvoll, sich krankzumelden, wenn man Beschwerden hat. Angestellte sollten sich vor Augen führen, dass es negative Konsequenzen hat, krank zu arbeiten und dass damit auch dem Arbeitgeber nicht geholfen ist. Ein schlechtes Gewissen ist also nicht notwendig. Das sollten auch Führungskräfte immer wieder betonen, insbesondere bei Beschäftigen im Homeoffice. Denn gesundheitliche Beschwerden bei der Arbeit schränken die Produktivität ein, erschöpfen die Willenskraft und wirken sich dadurch auch am nächsten Tag negativ auf Motivation und Leistungsfähigkeit aus.

 

Tipps für Praktiker

  • Machen Sie als Führungskraft Ihren Mitarbeitenden deutlich, dass es für das Unternehmen keine Vorteile hat, wenn sie krank arbeiten. Führen Sie ihnen auch die negativen Auswirkungen für die eigene Gesundheit vor Augen und wirken Sie so proaktiv einem falschen Pflichtbewusstsein entgegen.
  • Tolerieren Sie es nicht, wenn Sie sehen, dass Mitarbeitende krank arbeiten. Was dabei ganz wichtig ist: Melden Sie sich selbst krank, wenn Sie Beschwerden haben, denn sonst stellen Sie Ihre eigene Botschaft in Frage. Gehen Sie mit gutem Vorbild voran!
  • Angestellte entscheiden sich insbesondere dann dazu, krank weiterzuarbeiten, wenn sie den Eindruck haben, noch nicht genug geschafft zu haben. Deshalb ist es kontraproduktiv, wenn sie weiter Druck auf Mitarbeitende ausüben, die gerade nicht den vollen Einsatz bringen können.
  • Sollte das Arbeiten bei Krankheit einmal unumgänglich sein, sollten Führungskräfte darauf achten, dass die betreffende Person einfache, angenehme Aufgaben erledigt. So wird die Willenskraft weniger strapaziert und die negativen Auswirkungen am nächsten Tag abgeschwächt.

Literaturverweise und Methodik

Um herauszufinden, ob Schuldgefühle dazu führen, dass Angestellte krank im Homeoffice arbeiten, wurden in einer Studie rund 650 Teilnehmer und Teilnehmerinnen befragt. In drei Untersuchungen wurde ihre Entscheidung im Fall einer angenommenen oder tatsächlichen Erkrankung analysiert.

Brosi, P./ Gerpott, F. H. (2022): Stayed at Home – But Can’t Stop Working Despite Being Ill?! Guilt as a Driver of Presenteeism at Work and at Home, Journal of Organizational Behavior, https://doi.org/10.1002/job.2601

In einer weiteren Studie wurde eine vergleichbare Zielgruppe befragt, um zu untersuchen, warum Angestellte sich überhaupt entscheiden, krank zu arbeiten, und welche Konsequenzen diese Entscheidung hat. Dass die befragten Personen im Homeoffice arbeiteten, war in diesem Fall der Pandemie geschuldet. Im Fokus standen die psychischen Prozesse des Einzelnen. An 15 aufeinander folgende Tage füllten rund 130 Teilnehmer und Teilnehmerinnen mittags und abends Fragebögen aus, in denen gesundheitliche Beschwerden, Arbeitsfortschritt und Arbeitsengagement (Work Engagement) abgefragt wurden.

Rivkin, W./Diestel, S./Gerpott, F. H./Unger, D. (2022): Should I Stay or Should I Go? The Role of Daily Presenteeism as an Adaptive Response to Perform at Work Despite Somatic Complaints for Employee Effectiveness, Journal of Occupational Health Psychology. https://doi.org/10.1037/ocp0000322

Co-Autoren

Prof. Dr. Prisca Brosi

Associate Professor für Human Resource Management, Kühne Logistics University

Dr. Wladislaw Rivkin

Associate Professor für Organizational Behavior, Trinity Business School, Trinity College

Prof. Dr. Stefan Diestel

Inhaber des Lehrstuhls für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie, Schumpeter School of Business and Economics der Bergischen Universität Wuppertal

Dr. Dana Unger

Associate Professor für Work and Organizational Psychology, UiT The Arctic University of Norway

Prof. Dr. Fabiola Gerpott

Fabiola Gerpott ist Expertin für Leadership, Diversitätsmanagement und organisationales Verhalten an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Sie engagiert sich dafür, dass Vielfalt von Führungskräften und Mitarbeitern in Organisationen mehr Wertschätzung erfährt. Dabei gilt ihr besonderer Fokus der Alters- sowie Geschlechtervielfalt in Führungspositionen.

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